Heute war ein harter Tag für mich. Erstmals bin ich erst nach Sonnenuntergang bei Dunkelheit in meinem Quartier angekommen. Am liebsten wäre ich gar nicht losgegangen, denn mein gestriges Quartier war schön, komfortabel und geräumig. Da hätte ich es gut noch eine Woche ausgehalten. Und dann piesacken mich auch noch zwei Blasen am linken Fuß. Und tatsächlich habe ich mir heute Morgen etwas mehr Zeit genommen als sonst.
Aber schon die Planung des heutigen Tages war tricky. Die Gegend hier ist dünn besiedelt und die touristische Infrastruktur sehr ungleich verteilt. Ich hatte die Wahl zwischen einer sehr kurzen Etappe mit Übernachtungsmöglichkeit am Ziel, aber verbunden mit einem erheblichen Umweg. Das wollte ich nicht machen.
Seume ist von Caltagirone nach Palagonia gelaufen. Das jedoch sind 30 km und in Palagonia gibt es keine Quartiere. Weder Booking.com, noch Airbnb, noch Agroturismo, noch Google zeigen da was an. Quartiere gab es erst wieder 15 km hinter Palagonia in Scordia. Da ich aber keine 45 km laufen kann, fasste ich den Plan, einen Teil der Strecke zu trampen. Denn wäre ich mittags in Palagonia, bliebe noch Zeit für den Marsch nach Scordia.
Erst aber machte ich noch einen kleinen Gang durch die Altstadt von Caltagirone. Seume hat ja da am Markt residiert, wie ihr in meinem Beitrag von gestern lesen könnt. Aber einen Markt im Sinne eines zentralen Platzes, gibt es in vielen italienischen Städten gar nicht, und die Plätze in der Stadtmitte haben oft eigene Namen wie z.B. Straßen auch.
Caltagirone ist berühmt für seine Keramiktradition. Es werde alle möglichen volkstümlichen Skulpturen, Geschirr, Wanddekorationen und natürlich Fliesen angefertigt. Von all dem sieht man viel in der Dekoration der Gebäude: bunte Balustraden aus Keramik, Fassadenelemente usw. Eine Sehenswürdigkeit ist eine imposante Treppe mit entsprechendem bunten keramischen Dekor und einigen Skulpturen.
Überhaupt gib es in der auf mehreren Bergkuppen liegenden Stadt viele Brücken und Treppen. Der ganzen Stadt merkt man an, dass da ein gewisser ästhetischer Geist herrscht. Es gibt zahlreiche imposante Gebäude aus dem 19. Jahrhundert und aus dem frühen Zwanzigsten, die von Wohlstand zeugen. Der Wohlstand ist auch Seume schon aufgefallen. Schön, dass sich das etwas halten konnte. Caltagirone hat einen festen Platz auf meiner Merkliste für „da muss ich noch mal in Ruhe hin“.
Aber ich musste los und konnte mir kein Herumschlendern leisten. Hinter der Stadt ging es ein Stück über Feldwege. Beim Überklettern eines umgestürzten Baums wäre ich fast einen Hang runtergerutscht. Die Klamotten voller Schlamm – das wäre fatal gewesen für den Versuch, zu trampen. Früh am Morgen war alles noch nass und leider auch aufgeweicht vom gestrigen Regentag.
Als ich dann noch einen auf der digitalen Karte nicht ausgewiesenen, aber im Geländer erkennbaren Feldweg als erhebliche Abkürzung nahm, hatten meine Schuhe nach kurzer Zeit das doppelte Gewicht. So musste ich denn etwas durch feuchtes Gras laufen, um sie wieder halbwegs sauber zu bekommen. Sizilien ist oft steinig, habt aber auch reichlich fette Erde.
Endlich, nach mehr als 5 km, war ich auf der Straße angekommen, die fast schnurgerade nach Palagonia führt. Aber bevor es mit dem Trampen losging, musste ich mich erst mal bei den Orangenplantagen bedienen. Von Orangen kann ich nie genug bekommen. Was ich nicht wusste: fast den ganzen Tag kam ich an Orangenbäumen vorbei. Am Ende des Tages hatte ich bestimmt zehn gepflückt und verzehrt. Die gestern gekauften blieb im Rucksack.
Die Straße nach Palagonia ist eigentlich perfekt zum Trampen. Man wird, weil sie meistens schnurgerade ist, schon von Weitem gesehen, wichtig für die erforderliche Nachdenkzeit der Autofahrer (Autofahrerinnen halten nicht, daher erspare ich mir hier das Gendern). Es gibt oft Tempolimits, wegen zahlreicher Grundstücksausfahrten für die Plantagen, was die meisten Italiener allerdings nicht zum Langsamfahren motiviert. Die Sonne schien mir ins Gesicht, auch das ist wichtig, damit man als Person irgendwie taxiert werden kann, ohne dass die Fahrer geblendet werden. Und dann hatte ich mir noch ein Pappschild mit dem Wunschziel gemalt. Ideale Bedingen – was fehlte, waren Autos. Entweder waren alle noch im sonntäglichen Gottesdienst, oder bei Mama, oder einfach zu Hause.
Da es so wunderbar still war, beschloss ich, loszulaufen. Immer, wenn ein Auto kam, was ich schon von Weitem hörte, drehte ich mich um, strahlte in die Sonne und winkte mit dem Pappschild. Das Einzige, was mir beschieden wurde, waren bedauernde Gesten (das Auto ist voll, man biegt sowieso gleich ab oder fährt nur ein kurzes Stück usw.) oder eben stures Vorbeischauen.
So ging das ungefähr eine Stunde. Ich marschierte tapfer weiter. Irgendwo hinsetzen kann ja dazu führen, dass man ausgerechnet in dem Moment das richtige Auto verpasst. Außerdem war es noch nass. Und an italienischen Straßen steht auf 1.000 km vielleicht mal eine einzige Bank. Und die ist grad pleite, oder kaputt. Bushaltestellen wurden in Sizilien noch nicht erfunden.
Also ging ich tapfer weiter. Immerhin sah ich vor mir in der Ferne den Aetna. Und ab und zu hing mal eine Orange über den Zaun. Immer wenn eine Straße von der Seite auf meine Straße mündete, dachte ich: ok, alle, die von dort kommen, fahren vielleicht weiter nach Palagonia und erhöhen meine Chancen. Tatsächlich wurde der Verkehr etwas dichter. Dann hörte die schöne gerade Straße auf, und es gab S-Kurven. Da kann man natürlich nicht trampen, zumal alles mit Leitplanken zugebaut ist.
Schließlich kam ich an der Einmündung eines Autobahnzubringers an. Ich setzte den Rucksack ab und blieb stehen. Stehpause mit Trampen. Wer auch immer dort abbog oder das Tempo verlangsamte, fuhr nicht in meine Richtung. Langsam wurde ich unruhig. Es war 11.30 h und bis Palagonia waren es noch 17 km von knapp 30. Die würde ich zu Fuß bis Sonnenuntergang (16.45 h) schaffen, wenn ich denn jetzt weiterlaufen würde. Dann müsste ich aber bezüglich Quartier in Palagonia voll auf Risiko gehen, also herumfragen. Die Alternative: nach 5 km abbiegen und einen Umweg nach Mineo machen, zusammen 8 km.
Ich beschloss den Autofahrern noch eine Fünfminutenchance zu geben. Na gut, eine weitere Minute.
Und dann endlich hält Antonino! Er hält und fährt nach Palagonia! Ich bin sowas von erleichtert. Mangelns gemeinsamer Sprache spiele ich ihm meine Geschichte mit dem Google-Translator vor. Da sagt er doch: klar gibt es in Palagonia ein Hotel! Ich fahr dich hin, kein Problem!
Und so setzte er mich gegen halb eins vor dem Hotel am Stadtrand ab. Da rannte auch tatsächlich ein Kellner auf der Terrasse rum. Ich ging in das benachbarte Restaurant, dass zugleich Konditorei ist. Dort musste ich ein wenig warten, bis der Mann an der Kasse Zeit für mich hatte. „Hotel? Zimmer? Das war mal, leider alles dicht.“ Und irgendwelche Alternativen? Empfehlungen? Irgendjemand, der ein Zimmer vermietet (in einer Stadt mit 16.000 Einwohnern)? „Keine Ahnung.“
Über Palagonia schreibt Seume:
„Palagonia liegt herrlich in einem Bergwinkel des Tales Enna. Kommt man von Caltagirone herüber, so geht man zuletzt durch furchtbare Felsenschluchten, und steigt einen Berg herab, als ob es in die Hölle ginge; und es geht in ein Elysium. Schade, daß die exemplarische sizilianische Faulheit es nicht besser benutzt und genießt. Die Stadt ist traurig schmutzig.“
Ich stellte den Routenplaner von Komoot auf Scordia. Kurz nach Sonnenuntergang würde ich ankommen. Da ich die Stadt durchqueren musste, hielt ich Ausschau nach Restaurants oder irgendwelchen Orten, an denen ich nach Quartieren fragen konnte. Aber es war Sonntag, es war Siesta, und mir lief die Zeit davon. Auf einer Bank machte ich noch eine kurze Rast und buchte zähneknirschend eine Unterkunft in Scordia.
Dann stiefelte ich los. Erst ging es drei Kilometer straff bergauf. Ich hatte einen tolle Aussicht n das Tal und auf den Aetna. Dann stand ich auf etwa 500 m Höhe auf einem Plateau. Ein straffer Wind pfiff, aber glücklicherweise nicht in mein Gesicht. Nun ging ich über steinige Wiesen mit spärlicher Vegetation. Der Himmel hinter mir zog sich etwas zu. Und dann sah ich vor mir das Mittelmeer liegen, die Ionische See. Ich hatte das finale Ziel meiner Reise also fast schon vor Augen. Auch den Lago di Lentini sah ich in der Ferne, mein morgiges Tagesziel.
Seume hatte hier auf der Höheebenfalls einen glücklichen Moment:
„Einer der überraschendsten Anblicke für mich war, als ich aus Palagonia heraustrat. Vor mir lag das ganze, große, schöne Tal Enna, das den Fablern billig so wert ist. Rechts und links griffen rundherum die hohen felsigen Bergketten, die es einschließen und von Noto und Mazzara trennen; und in dem Grunde gegenüber stand furchtbar der Aetna mit seinem beschneiten Haupte, von dessen Schädel die ewige lichte Rauchsäule in der reinen Luft emporstieg, und sich langsam nach Westen zog.“
Die nächsten 12 km ging es in leichtem Gefälle bergab. Ab und zu musste ich über Weidezäune steigen, ausgetrocknete Wasserläufe queren. Es war anstrengendes Terrain, aber ich war guten Mutes. Ich sah Kühe, Orangenhaine und sogar eine Eisenbahn. Ich musste ein wenig an einer Schranke warten, bis ein kleiner Dieseltriebwagen an mir vorbeifuhr. Als ich nach Scordia kam, war es dunkel, aber die letzten zwei Kilometer lief ich mit Straßenbeleuchtung.
Im Quartier empfing mich Letizia, die alles mit Geschmack ein wenig weihnachtlich dekoriert hatte. Die Bude war geheizt und auf dem Küchentisch stand eine große Schale mit Nüssen. Und Orangen.
Mit Letizia verbindet mich inzwischen eine kleine Freundschaft. Als sie erfuhr, dass ich in Leipzig aufgewachsen bin, schickte sie mir am nächsten Tag Kopien des „vorläufigen Fremdenausweises“ ihres Vaters, der ab 1944 in Taucha bei Weißenfels Zwangsarbeit leisten musste. Aber wo das genau war und wie es dort aussieht, wusste Letizia nicht. Mein Versprechen, das zu erkunden, konnte ich einige Monate später erfüllen. In das Dörfchen Taucha habe ich eine kleine Exkursion gemacht und tatsächlich die Fabrik gefunden, in der Letizias Vater arbeitete. Das Ergebnis, ein Büchlein mit Bildern, habe ich an Letizia geschickt. Zum Dank erhielt ich mit der Post wieder etwas später eine große Schachtel mit sizilianischem Konfekt. Eine Teil davon habe ich in ein Päckchen anukrainische Freund ein Kyiv geschicht. So wünsche ich mir das: den europäischen Gedanken verwirklichen, jemandem eine Freude machen, die Schuld der Großväter ein wenig abtragen.
Noch einen kurzen Abstecher in die Altstadt von Caltagirone
Tag 102 Von Caltagirone nach Scordia
Die Straße nach Palagonia mti dem Aetna am Honizont
Diese Chaussewärterhäuschen sind mir in Italien an den Fernstraßen immer wieder begegnet. Sie haben den charakteristischen roten Anstrich und die immer gleiche Bauweise. Oft werden sie noch bewohnt, manchmal sind sie zweckentfremdet, manchmal verfallen sie.
Blick auf Palagonia
Kurz vor Scordia bricht die Dämmerung an. Und immer noch sehe ich den Aetna.