Wir haben uns bis weit nach neun unterhalten. Mit einer Mixtur aus Deutsch (hatte er ein wenig in der Schulde gelernt), Italienisch und Französisch (so weit es mir wortweise einfiel), vor allem aber mit Google Translator haben wir uns über das Wandern, die Politik, die Familien, das Leben ausgetauscht. Domenico ist ein pensionierter Polizist, so wie ich ein Verfechter der Europäischen Idee und Gegner von Meloni. Er hat schon diverse Pilgerwege absolviert und präsentierte mir auch stolz Bilder vom Papst, weil er auf dem Petersplatz in Rom offenbar in der der ersten Reihe gestanden hat. Weil er ehrenamtlich für einen Orden arbeitet, bekommt er sehr günstig Quartiere entlang der Pilgerwege, wobei er immer nachweisen muss, dass er tatsächlich entlang des Weges unterwegs ist. Ein kleines Zelt schleppt er aber auch noch mit.
Denis hatte heute früh den Kamin schon wieder angeheizt, und seine Frau hatte ein opulentes Frühstück bereitet. Das ist fantastisch, denn so schone ich meine Vorräte, was an einem Sonntag sicher gut ist. Dann bekam ich noch frische Luft auf die Reifen, und natürlich wurde noch ein Bild gemacht. Beide konnten nicht so recht glauben, dass der Roller ohne Strom fährt. Also haben sie auf dem Hof auch eine kleine Testrunde gemacht. Als Domenico heute früh mit schmerzverzerrtem Gesicht die Wanderschuhe anzog und dann langsam humpelnd losging, habe ich mich sehr über meinen Roller und komplett blasenfreie Füße gefreut.
Der Weg führte heute fast die ganz Zeit auf einem schön ausgebauten Radweg am Ufer des Kanal entlang. Domenico ging ein wenig eher los. Nach einigen Kilometern hatte ich ihn überholt. Er ist zu bedauern, denn er läuft die ganz Zeit auf dem schnurgeraden Uferweg, sehr langweilig, wie wir beide konstatierten. Aber er wollte nur bis Chalon sur Marne, wo ich schon gegen 10 eintraf und in einem Café am Markt Pause mit Tee und Crêpes machte.
Heute regnete es nur wenig, es war fast windstill. Nur die Wege waren zum Teil noch etwas glitschig, dann fehlt der Grip beim Treten. Gegen Nachmittag kam die Sonne raus, so dass ich nach ewigem Aus- und Anziehen der Regenjacke endlich ohne sie fahren konnte
Seume hat mich bei der Routenplanung etwas verwirrt:
Einige Stunden von Chalons schlief ich die Nacht an einem Ort der Pogny heißt, und der seinem Namen nach vielleicht der Ort sein kann, wo Attila sehr tragisch das Nonplusultra seiner Züge machte. Dann übernachtete ich in Longchamp, dann in Ligne en Barrois. In Nancy, wo ich Vormittags ankam, besah ich Nachmittags das Schloß und die Gärten, welche jetzt einen angenehmen öffentlichen Spaziergang gewähren und ziemlich gut unterhalten werden.
Durch Pogny bin ich heute durchgefahren. Es ist ein winziges Dorf mit Kirche. Die sah ich vom Kanal aus. Es liegt an der Marne und seit 1845 eben auch am Kanal. Seume - wie gesagt – erwähnt den Fluss nicht. Vielleicht war er gerade ausgetrocknet (was ein Grund war, später den Kanal zu bauen).
Longchamp liegt völlig abseits der Strecke von Pogny nach Ligny en Barrois. Nach Longchamp wäre es ein krasser Bogen nach Norden durch hügeliges Terrain. Diesen Ort werde ich also beherzt auslassen. Es ist anzunehmen, dass Seume sich beim Namen etwas vertan hat. Vielleicht finde ich ja aber auch noch ein Dorf an der Strecke, das so oder ähnlich heißt.
Jetzt bin ich in Vitry le Fancoise und sitze in einem Café, in dem es viele Cocktails, aber nichts zu essen gibt. Gegessen habe ich daher zuvor bei einem Asiaten, wo ich der einzige Gast war. Ich durfte mir mein Essen an einer Art Vitrine zusammenstellen, nach zwei Minuten kam es warm aus der Mikrowelle. Zuvor bin ich im wieder einsetzenden Regen durch die Stadt gekurvt auf der Suche nach einer Art Belohnungscafe (mit Kuchen) oder einem richtigen Restaurant. Alles zu oder schlicht nicht vorhanden. Alles ziemlich „Gronau“ hier.
Ich habe hier ein preiswertes Zimmer (50 €) in einem Haus, von dem ich schwer annehme, dass es eigentlich ein Puff mit Mietzimmern ist. Das Haus ist komplett überplüscht und mit kitschiger erotischer Deko zugestellt. In meinem Zimmer befindet sich das WC in einer Art Schrank. Neben dem Bett steht ein Whirlpool. Es gibt einen Wasserkocher, aber keine Tasse dazu. Die Zimmer haben keine Nummern, sondern Blumennamen. Aber das krasseste: das Haus ist ganz woanders als auf booking.com angegeben. Der Chef (ein Makler) rief mich gegen Mittag an und gab mir eine Adresse durch, die ich mir natürlich nicht merkte, und von der ich annahm, das ist halt gleich nebenan und ich werde es schon finden und muss da einfach den Schlüssel abholen. So war es aber nicht. An der offiziellen Adresse angekommen (ich hatte die Hausnummer gefunden, dort war ein verlassen wirkendes Ostheopathie-Lokal), musste ich ihn nochmals anrufen und ihn darum bitten, mir die eigentliche Adresse per SMS zu senden. Immerhin: dafür hat mein bescheidenes Französisch gereicht.
Jetzt sitze ich in dem besagten Café unter lauter Menschen (vor allem Männer), die auch keine Ahnung haben, wo sie den Sonntagabend verbringen sollen, wenn es regnet.
Und Morgen soll es wieder regnen. Und meine Strecke wird erneut gut 25 km an dem öden schnurgeraden Kanalufer langführen. Der Weg ist schön flach, es zwitschern die Vögel, immer mal wieder sieht man die Marne durch wildes Gestrüpp eines sehr naturbelassenen Auenwaldes. Sehr schön. Aber das wars dann auch. Jogger/innen und Radfahrer trifft man ab und zu. Wenn man Glück hat sind deren Zähne nur so wenig verschraubt, dass ein verknurrtes Bon Jour zu vernehmen ist, nachdem ich (aus Prinzip jeden) gegrüßt habe. Es gibt Wegweiser zu Orten, die sich hinter besagtem Auenwald an der anderen Seite des Kanals verbergen. Aber lohnt es sich abzubiegen? Wenn dort auch alles zu ist? Kein Mensch auf der Straße?
Das einzig faszinierende (für mich, ich weiß), sind gigantische Getreidespeicher, Zementfabriken, verlassene Kalksteinbrüche mit den zugehörigen Bauten, die teils mit hilflosen Ladebrücken übers Wasser reichen. Hätten Hilla und Bernd Becher nicht längst großartiges geleistet, wäre das eine eigene Serie wert.
Heute bin ich 51 km gefahren. Noch nie habe ich so eine lange Strecke mit dem Roller gemacht. Auch mein Durchschnitt war mit 13,6 km/h ordentlich. So bin ich denn trotz großzügiger Vormittagspausen immer schon gegen 15 h im Quartier. Und ich bin noch erstaunlich fit. Ich will vielleicht mal eine noch längere Etappe machen, wenn es sich lohnt, an dem Ziel einen Ruhetag zu machen. Zum Beispiel 63 km nach Ligny en Barrois (Seume erwähnt es), mit ordentlich Höhenmetern und viel Straße nach dem Kanalabschnitt.
Pogny. Ansicht vom Kanal
Tag 5 Von Conde sur Marne bis Vitry le Francoise
Viel Glück, lieber Domenico!
Das Rathaus von Charlon sur Marne
Ein großer Getreidespeicher.
Ab und zu hat man einen Blick auf die Marne. Ein wunderbarer Fluss, dem der Bau des Kanals zahlreiche Staustufen erspart hat.
Noch ein großer Speicher an einer Wendestelle im Kanal.
Mein aufregendes Zimmer heute.