Jetzt sitze ich im traumhaft schönen Café „1914“ mitten in Triest, dass ich erst vor einer guten Stunde vom Hang des Berges, den ich zu überqueren hatte, im Dunst von Meer und Stadt unten vor mir liegen sah.

Hier laufen alle in Jacken und Pullovern, ich trage kurze Hosen und T-Shirt bei schwarzem Tee und Sachertorte. Heute früh schien schon die Sonne und ziemlich schnell habe ich alles Überflüssige abgelegt, so warm war es nach kurzer Zeit. Der Weg ging zunächst entlang der Bahn und dann den ganzen Tag durch den Wald. Der war bis Sezana noch einigermaßen wie mitteleuropäischer Mischwald. Als ich aber nach Sezana, dass ich eigentlich nur besuchte, weil dort Seume definitiv durchging, wieder bergauf marschierte fand ich mich in einem bemerkenswerten (und auch recht berühmten) Karstgebiet wieder.

In Sezana habe ich einen Fehler gemacht. Eigentlich wollte ich etwas essen, aber wie so oft Seume auch, fand ich kein gutes Wirtshaus. An einer Bar saß ich draußen und trank mein alkoholfreies Bier zu Mittag. Als ich reinging zum Bezahlen, spricht mich ein Mensch an der Theke an. Ich erzähle dies und das zu Seume und meiner Reise. Dann lädt er mich auf ein Bier ein. Das lehnte ich nach einigem Überlegen und Bedauern ab, denn ich saß bereits eine gute halbe Stunde, und wollte nicht zu spät in Triest eintreffen. Leider zu spät habe ich dann gemerkt, dass ich die Zeit noch gut gehabt hätte, denn vor mir lagen nur noch 12 km und tatsächlich kam ich schon kurz nach 5 in Triest an. Der Mann sprach gut Englisch, es wäre sicher nett geworden.

Andererseits konnte ich mir nun in besagtem Karstgebiet Zeit nehmen, die ein und andere Tafel lesen (alle jeweils auch auf Englisch, später sogar Italienisch). Es ist eine bizarre Landschaft mit großen Kalksteinblöcken, wie hingestreut. Der Bewuchs ist spärlich, denn jedes Wasser versickert sofort im löchrigen Boden. Dann wieder finden sich zahlreiche Einbrüche der Kalkschichten, was 10 bis 20 Meter tiefe Krater hinterlässt. Wenn diese jünger sind, fallen die Wände topfartig steil hinab. Die Landschaft war tatsächlich bis vor gut 70 Jahren fast völlig kahl. Die Bauern bewirtschafteten kreisrunde Felder am Grund der Krater, wo sich etwas Mutterboden bilden konnte. Diese waren oft noch mit Steinwällen geschützt. Der Rest der Gegend wurde mit Schafen und Ziegen bewirtschaftet. Inzwischen sind die Böden der Krater bewaldet, die Landschaft oben weitgehend verbuscht und mit einzelnstehenden Kiefern oder Pinien bewachsen.

Das Ganze präsentierte sich unter strahlender Sonne und in herbstlichen Farben. Besonders hatte es mir der rot leuchtende Gewöhnliche Perückenstrauch angetan. Vielen Dank, an Flora Incognita, die mir diesen Allgemeinwissenssprung im floralen Bereich ermöglichte.

Aber auch die Fauna kam heute nicht zu kurz, zumindest auf Warnschildern. In Slowenien wurde ich darauf hingewiesen, dass ich jetzt das Revier der Bären betrete. Sofort habe ich die kleine rote Plastiktrillerpfeife aus dem Rucksack gekramt, die mir meine Schwester zum Abschied mit auf die Reise gegeben hat (aus irgendeinem Notfallset). In Italien wiederum wurde ich vor diversen Giftschlangen gewarnt, die sich wohl auf dem kahlen Karst besonders wohl fühlen.

Als ich im Wald oben auf dem Karst über die Grenze ging, merkte ich davon absolut nichts. Es deutete kein winziges Zeichen mehr darauf hin, dass hier zwei Staaten aufeinandertreffen und früher mal zwei Systeme. Lediglich mein Mobilfunkprovider meldete sich mit einer SMS, dass ich nunmehr im italienischen Netz sei. Hach, wenn doch alle Grenzen so wären, so wunderbar belanglos.

Im ersten italienischen Ort versuchte ich, in einer Bar schwarzen Tee zu bekommen. Die haben mich erst gar nicht verstanden, so erstaunt waren die. Ich habe dann einfach ein Mineralwasser bestellt.

Irgendwie konnte ich es kaum erwarten, in Italien zu sein. Als wäre ich dem Ziel schon ganz nah. Aber ich habe noch nicht mal die Hälfte der Strecke hinter mir. Für die ganze Woche ist schönes Wetter angesagt.

Und was schreibt Seume:

„Der erste Anblick der Stadt Triest von oben herab ist überraschend, der Weg herunter ist angenehm genug, der Aufenthalt auf einige Zeit muß viel Vergnügen gewähren, aber in die Länge möchte ich nicht hier wohnen. Die Lage des Orts ist bekannt, und fängt nun an ein Amphitheater am Meerbusen zu bilden. Die Berge sind zu hoch und zu kahl, um angenehm zu sein; und zu Lande ist Triest von aller angenehmen Verbindung abgeschnitten. Desto leichter geht alles zu Wasser.“

Ich bin aber seit Ljubljana erst vier Tage gelaufen, und kann nicht schon wieder Ruhetag machen, zumal es mir gut geht und ich leicht vorwärtskomme. Das ist er vielleicht, der lang erhoffte Flow. Die zweite Generation Blasen an den Füßen zeigt sich noch nicht.

Jetzt kommt aber noch die Überraschung des Tages: abends in meinem B&B-Quartier stelle ich fest, dass mein Perso nicht mehr da ist, wo er sein soll. Nach einigem Grübel und Suchen fiel mir ein was passiert war: im Hotel in Divaca gab ich nach dem Frühstück dem jungen Mann an der Rezeption meinen Ausweis, damit er meine Rechnung fertig machen kann, ich ging noch mal aufs Zimmer zum Zähneputzen. Dann Auschecken, Bezahlen … ja, genau. Der Perso lag noch an seinem Arbeitsplatz. Das wurde festgestellt, als ich abends im Hotel anrief. Aber eventuell naht Rettung, denn in dem Hotel sind vielleicht einige Gäste aus Triest, der Chef will morgen klären, ob jemand meinen Ausweis mitnehmen kann. Denn, was auf der Landkarte so schön aussieht, funktioniert im praktischen Leben nicht: mal schnell mit dem Zug oder mit dem Bus von Triest in das nur 15 km Luftlinie entfernte Nachbarstädtchen zu fahren. Immerhin wäre der Ausweis ganz verloren, wäre es komplizierter. Nun muss ich eventuell doch etwas länger in Triest weilen und kann demzufolge auch keinen Plan machen für mein Tagesziel morgen.

Am alten Hafen von Triest aß ich zu Abend.

Tag 47 Von Divaca nach Triest

17.Oktober 2022, 25 km bis km 1.215

Endlich bin ich am Mittelmeer angekommen. Es war ein toller Moment.

Triest ist mondän und nach wie vor ganz von Kommerz geprägt.