Seume schrieb zum heutigen Tag:
„Zwischen Fulda und Hünefeld drückte mich die Hitze furchtbar und der Durst war brennend: und auf meiner ganzen Wanderung habe ich vielleicht keine so große Wohltat genossen, als da ich sodann links an der Straße eine schöne Quelle fand. Leute, welche einen guten Flaschenkeller im englischen Wagen mit sich führen, haben von dieser Erquickung keinen Begriff. Der Hitze haben sie im Wagen zwar nicht viel weniger, aber die Erfrischung können sie nicht so fühlen. Du darfst mir glauben, ich habe dieses und jenes versucht. In Hünefeld war Schießen, die Gesellschaft der Honoratioren speis'te in meinem Wirtshause, und ich hatte das Vergnügen die Musik so gut zu hören, als man sie wahrscheinlich in der Gegend und aus Fulda hatte auftreiben können. Wenn auch zuweilen eine Kakophonie mit unter läuft, tut nichts; sie können das Gute doch nicht ganz verderben, ebensowenig als man es in der Welt durch Verkehrtheit und Unvernunft ganz ausrotten kann.
In Vach hatten mich ehemals die Handlanger des alten Landgrafen in Beschlag genommen und nach Ziegenhain und Kassel und von da nach Amerika geliefert. Jetzt sollen dergleichen Gewalttätigkeiten abgestellt sein. Doch möchte ich den fürstlichen Bekehrungen nicht zu viel trauen; sie sind nicht sicherer als die demagogischen.“
Von Hitze konnte heute keine Rede sein. Der Tag begann im Nieselregen, und ich fuhr in Regenmontur los. Nach elf zog ich die Regenjacke aus, gegen zwei zog ich sie wieder an. Der Landregen, der am Nachmittag einsetzte, hat sich verstetigt. Die Reifen der Autos platschen über des Pflaster des Marktes, die Scheinwerfer glänzen auf dem Basalt.
Die Landschaft hinter Fulda ist etwas dröge. Es gibt schöne Hügel, die mich zum Schieben zwangen. Lange ging ich im Lärm der Straße, die mal Seumes Straße gewesen sein musste, und heute teils dreispurig ausgebaut ist, die Dörfer umgehend. In Hünfeld machte ich einen Bogen durch die Innenstadt. Es gibt eine kleine Fußgängerzone. In einem Café trank ich einen schwarzen Tee mit Tiramisu, etwas anderes gab es nicht zu essen. Der Kellner war schlecht gelaunt, sprach kein Deutsch und konnte nicht rechen, so dass ich ihm zuletzt etwas helfen musste. Die anwesenden Rentner nahmen keine Notiz von mir. Nur eine Dame vom Nebentisch wollte wissen, wo ich herkomme und was mich nach Hünfeld verschlagen hätte. Ich erzählte von meinem Projekt, von Seume, gab ihr mein Kärtchen. Sie ließ es auf dem Tisch liegen, als sie wenig später ging.
Ein gutes Stück hinter Hünfeld ließ der Regen nach. Ich hatte mühsam Höhe gewonnen und fuhr nun auf dem alten Bahndamm der stillegelegten Ulstertalbahn bzw. parallel zu diesem recht komfortabel bergab. Unterwegs traf ich noch auf einen kleinen Haufen Pfadfinder, die die alte Grenzregion erkunden. Ja, und plötzlich, in Pferddorf, war ich in Thüringen, überfuhr die alte Grenze, ohne es zu merken, was daran liegen kann, dass diese in der Mitte des kleinen Flüsschens Ulster verlief.
Schon bald sah ich die Schlote, dann auch die riesige Halde des Kaliwerkes Philippsthal. Es ist noch in Betrieb. Auf dem Förderturm drehten sich die Umlenkrollen, ein Zug wurde rangiert. Und vermutlich sorgt es für den letzten Rest des Wohlstandes, der hier, in dieser traditionell recht dünnbesiedelten armen Gegend eigentlich erst mit dem Kalibergbau und dem Bau der Ulstertalbahn begann.
Letztere hat eine interessante Geschichte: gebaut wurde sie unter Einsatz vieler schlecht bezahlter italienischer Gastarbeiter in den Jahren 1889 bis 1909. Dann gab es Probleme, weil ihr Verlauf den eisernen Vorhang, die neue Grenze mehrfach schnitt. Ein Kaliwerk auf DDR-Gebiet war plötzlich ohne Bahnanschluss, als die Züge nicht mehr beliebig die Grenze kreuzen konnten. Zuvor sprangen wohl etliche Menschen von den Zügen, wenn diese Westgebiet durchquerten. Jugendbrigaden der FDJ haben dann 1952 in nur 90 Tagen die Bögen durch den Westen auf der Ostseite begradigt. Mit „Die erste sozialistische Bahnlinie“ (5 km) wurde das propagandistisch ausgeschlachtet. Ihm Westen wurde die Bahn stillgelegt. Und die Natur holte sich dort auf wilde Weise zurück, was ihr Jahrzehnte zuvor abgeschnitten wurde. Der Bahndamm ist so dicht zugewachsen, dass der Radweg später daneben angelegt wurde. Aber man erkennt noch die alten Bahnhofsgebäude, Lokschuppen, Verladerampen und die zur Zier hingestellten alten Waggons.
Um Vacha steht es nicht gut. Am Markt hat man Dächer und Fassaden der Häuser restauriert. Aber an den leerstehenden Erdgeschossen sieht man, dass es eben nur die Fassaden sind, die gerettet wurden. Gerade ist das Rathaus eingerüstet, eigentlich ein altes Palais aus dem 18. Jahrhundert, in dem einst Napoleon auf der Flucht aus Leipzig abstieg, aber nicht wirklich Ruhe fand. Aus dem Hotel Adler wurde ihm damals eine Pastete in die Kutsche gereicht – so steht es auf einem Schild, welches auf der Straße aufgestellt ist. Seume findet auf selbigem keine Erwähnung.
Und auch das Hotel hat einiges zu erzählen: die Chefin, die seit dem Tode ihres Mannes vor zwei Jahren alles im Alleingang regelt, erzählte, dass es einst der Familie ihres Mannes gehörte. Dessen Vater wiederum war im 2. Weltkrieg in der SS und bekam von seiner Mutter ordentlich eine gescheuert, als er mal nach Vacha in Uniform zu Besuch kam, während seine Eltern auf dem Dachboden ein jüdisches Paar versteckten. Dem gelang auf wundersame Weise die Flucht in die USA. In den sechziger Jahren wurde den Helfern eben dort dann ein Haus vererbt, welches diese wiederum verschenkten, weil eine Nutzung oder Verwaltung der Immobilie von Europa aus nicht möglich war. Anfang der Neunziger Jahre hat der nun leider verstorbene Mann der Besitzerin das zwischenzeitlich verstaatlichte Hotel zurückbekommen und es für viel Geld saniert. Er zog aus Frankfurt a.M. nach Vacha, um fortan den alten Familienbesitz zu pflegen. Aber gäbe es nicht ab und zu mal Monteure bei Kali+Salz oder einige Wanderer, stünde das Hotel jetzt wohl oft leer. Dabei ist es schön: es hat noch eine ganz alte Gaststube aus der Ursprungszeit und zwei gut erhaltene Säle, die in den dreißiger Jahren angebaut wurden. Eigentlich müsste man wieder sehr viel Geld anfassen, um es auf einen moderneren Stand zu bringen. Neben dem Bett gibt es noch ein Telefon mit Kabel, aber keine Steckdose für ein Ladekabel. Und das WLAN setzt immer mal aus.
Die Besitzerin sucht Käufer, die hier im fernen Vacha alles übernehmen wollen. Um sie ein wenig zu trösten (und zugleich wohl auch, um die Schwierigkeit des Unterfangens zu beschreiben) erzählte ich ihr, dass ich auf meiner Reise von Paris hierher überall in den kleinen Orten den Niedergang von Gastronomie und Handel betrachten konnte. Offenbar stehen wir in ganz Europa in einem drastischen Kulturwandel, der Orten wie Vacha schwer zu schaffen macht.
Der Markt von Vacha
Tag 24 Von Fulda nach Vacha
Der Bahn-Radweg an der Ulster
Hünfeld