Meine Strecke heute war einigermaßen flach, denn ich fuhr fast immer parallel zur Werra, großenteils auf dem Werra-Radweg. Nur einige Kilometer vor Bad Salzungen habe ich diesen verlassen, weil ich annehmen musste, dass Seume damals die Straße nahm, und nicht den großen Bogen machte, den der Radweg schlägt. Das war möglicherweise Glück, denn von entgegenkommenden Radwanderern erfuhr ich, dass der Radweg an einer Stelle gesperrt sei. Allerdings habe ich mich um solche Sperrungen bisher wenig geschert. Oft waren es Straßenbaustellen, über die ich einfach drüber gestiefelt bin.
Die Route führte lange durch das alte Kalirevier. Orte wie Merkers, Bischofferode und natürlich auch Philippsthal sind mir ein Begriff, denn Anfang der neunziger Jahre machten die streikenden Kumpel Schlagzeilen, als sie um den Erhalt ihrer Gruben kämpften. Man sieht sie überall noch die Spuren der alten Industrie: Abraumhalden, Fördertürme, Bahngleise, große Kulturhäuser für die Unmengen an Arbeitern, die einst hier schafften.
Vor Bad Salzungen, auf dem Parkplatz eines Norma-Supermarktes sprang mir die Armut förmlich entgegen. Man sieht es den Leuten an, wie es ihnen geht. Hinter mir in der Schlage an der Kasse zwei Männer im Dialog: „Lange nicht gesehen! Wie geht’s? Muss ja. Wenn nicht so, dann anders. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier…“ usw. Die Straße in die Stadt zugepflastert mit AfD-Plakaten. Die hängen gefühlt an jedem zweiten Laternenpfahl. Zum Teil mit reichlich Komik. Steht auf dem einen: „Sachleistungen statt Bargeld!“, steht auf dem nächsten: „Bargeldabschaffung verhindern!“. Oben hängt die AfD mit „Kultur statt Ideologie“. Drunter hängt die FDP mit „Vernunft statt Ideologie“. Was ist bei denen Vernunft, Kultur, Ideologie? Das passte auch zu den Sprüchen auf T-shirts, mit denen einige Männer hier halb trotzig, halb stolz in ihren Garagen stehen, das passt zu mancher Flagge, die in Vorgärten rumhängt.
An Bad Salzungen habe ich gemischte Erinnerungen. Hier lebten Großeltern und Großtante meiner lieben Ex. Wenn wir hinfuhren, um sie zu besuchen, bekam ich regelmäßig Magenschmerzen. Mich überkam schon im Zug der Frust, angesichts der zu erwartenden ungeheuren Spießigkeit der Leute, des Hauses. Meine Ex wiederum liebte vor allem ihren Großvater (tatsächlich ein cooler Typ, Musiker). Sie verband die Reisen auch immer mit allerbesten Kindheitserinnerungen und wurde immerzu euphorisch, weil ihr viele kleine Details einfielen. Kochkäse z.B. Ich habe mich da nie wirklich wohl gefühlt und das wurde noch gesteigert, weil sich meine Ex dort BESONDERS wohl fühlte. Im Nachdenken darüber, warum vergleichbare Emotionen bei mir partout nicht aufkommen wollen, warum ich so ungerecht bin, steigerte sich das Unbehagen. Tja, tut mir leid. Ich wusste nicht mal mehr die Adresse des Hauses, das längst andere Besitzer hat.
Bad Salzungen hat sich noch mal ein wenig an mir gerächt: Auf dem Markt wollte ich in einem Café was essen. Ich stellte meinen Roller an einen Baum zwischen den Tischen und blätterte in der Karte, als die Kellnerin an mich herantrat: „Fahrräder müssen an den Ständer!!!“ „Aber hier wird doch niemand gestört! Und außerdem ist das gar kein Fahrrad.“ „Das gilt auch für Roller!!!“ „Aber wen stört das denn?“ „Den Chef!“ Ich stand wortlos auf und fuhr weiter.
Dss Werratal ist eigentlich schön. Der Fluss mäandert weitgehend ungestört durch die Wiesen und hat offenbar bei Hochwasser genug Platz. Man schaut auf die Berge des Thüringer Waldes in der Ferne. Und heute war das besonders schön, weil es imposante Kumulus-Wolken gab.
In Breitungern rastete ich neben dem Gasthaus zur Linde. Es wurde restauriert, und Seume ist mir großer Sicherheit hier vorbeigekommen, vielleicht sogar eingekehrt.
Seume schreibt zum heutigen Tag:
„Von Vach wollte ich Post nach Schmalkalden zu meinem Freunde Münchhausen nehmen. Der Wirt verpflichtete sich, da nicht sogleich Postpferde zu haben waren, mich hinüber zu schaffen, ließ sich die Posttaxe für zwei Pferde und den Wagen bezahlen und gab mir einen alten Gaul zum Reiten. Das nenne ich Industrie. Was wollte ich machen? Ich setzte mich auf, weil ich fort wollte. Doch kam ich zu spät an. Es war schon tief Nacht als ich den Berg hineinritt, und gegen zehn Uhr war ich erst in dem Tale der Stadt. Die Meinungschen Örter und Dörfer, durch die ich ging, zeichneten sich immer sehr vorteilhaft aus. Das einzige, was mir dort nicht einleuchten wollte, war, daß man überall so viel herrliches Land mit Tabakspflanzungen verdarb. Dieses Giftkraut, das sicher zum Verderben der Menschen gehört, beweis't vielleicht mehr als irgend ein anderes Beispiel, daß der Mensch ein Tier der Gewohnheit ist.“
Schmalkalden ist ähnlich hübsch restauriert wie Vacha. Aber am hiesigen Markt tobt das Leben (im vergleich zu Vacha). Sicher profitiert die Stadt von ein wenig Industrie und einer Fachhochschule. Und es stehen auch nicht zwei Drittel der Geschäfte leer, es fahren keine Autos durch die Innenstadt.

Blick auf Merkers und das Werratal
Tag 24 Von Vacha nach Schmalkalden


Das Forstloch in den Riedwiesen bei Immelborn. Überhaupt gibt es erstaunlich viele große Teiche im Werratal.


Schmalkalden hat Bahnanschluss