Heute habe ich eine harte, aber auch unterhaltsame Etappe absolviert: streckenmäßig die bisher längste, mit einem anspruchsvollen Höhenprofil dazu. Von den knapp 65 km habe ich den Roller gut 8 km geschoben, darunter eine lange Steigung über mehrere Kilometer. Aber insgesamt bin ich es ruhig angegangen und jetzt nicht zu sehr erschöpft.

Zuerst begegnete ich Elmar. Ihn traf ich kurz vor Wächtersbach-Neudorf. Beide mussten wir zunächst etwas staunen und grinsen über die seltsame Art der Fortbewegung des jeweils anderen. Ich hielt Elmar auf den ersten Blick für einen modernen Handwerker. Denn sein, ich sage jetzt mal, schrankwandgroßer Fahrradanhänger ließ für mich keineswegs das Reisen aus purem Vergnügen vermuten. Aber tatsächlich war er auf dem Rückweg aus Stuttgart, wohin er aus reiner Neugier fuhr. Elmar hat in seinem Anhänger einen kleinen Haushalt, was ihm das Nächtigen und Kochen fast überall ermöglicht. Der Anhänge wiederum ist ein höchst professionelles Teil mit eigener Bremse, Bremslicht, Rücklicht sowieso und Solarpaneelen auf dem Dach. Nur dass er eben 100 kg wiegt. Den zieht er eigentlich mit einem E-bike. Aus diesem hat er jedoch den Akku entfernt, weil er unterwegs eher nicht an Orten Station macht, wo man diesen leicht wieder aufladen kann. Elmar ist 40 und eigentlich Koch. Aber er hat beschlossen, sich erst mal etwas Zeit zu nehmen, um Deutschland kennenzulernen. Wir haben uns gut verstanden und vor allem zu technischen Fragen des Reisens den Austausch gepflegt, wobei wir unter einer Dorflinde saßen und jeder aus seinen Vorräten das zweite Frühstück bestritt.

Am späten Nachmittag traf ich dann noch Mirko. Er ist mit einem frisierten Einkaufswagen (z.B. größere luftbereifte Räder unten, Solarpanel als Deckel oben) von Zittau nach Santiago de Compostela unterwegs, über Bordeaux. Diese Aktion überträgt er weitgehend live über twitch.tv. (leider kostenpflichtig, aber es gibt einige clips for free). Mirko stellte sich (so wie ich) las Privatier vor. Seine jetzige Aktion hat er sich durch 20 Jahre Leben auf dem LKW erspart. Aber im Winter sagt er, will er mal wieder ein paar Monate fahren zum Aufbessern der Reisekasse. Chauffeure werden auf der ganzen Welt gesucht, eigentlich ein idealer Job, wenn man spontan sein will.

Mirko traf ich wenige Kilometer vor Fulda. Einige Zeit davor hatte ich noch eine weitere interessante Begegnung.

Auf den Kuppe eines großen Hügels mit Blick auf die Kali-Halde von Schacht II bei Neuhof fiel mir eine Baumgruppe auf. Bei näherem Betrachten stellte ich fest, dass sich dort mitten in den Feldern ein jüdischer Friedhof befindet, der einstmals von mehreren jüdischen Gemeinden der umliegenden Dörfer betrieben wurde. Dort in der Nähe sah ich einen älteren Herrn mit Fahrrad, dem ich kurze Zeit später in einer Eisdiele wieder begegnete. Und der erzählte mir zu diesem Friedhof eine krasse Geschichte. In den neunziger Jahren gab es einen Bürgermeister, der sich dem damals völlig verwahrlosten Friedhof annahm. Er ließ Gestrüpp beseitigen, ließ einen neuen Zaun und Schilder anbringen. Als alles fertig war, hielt er zu diesem recht löblichen Projekt eine Rede, in der er sinngemäß folgende Behauptung vortrug: Während der russischen Oktoberrevolution, waren in der Reihen der Sowjets zahlreiche Juden aktiv. Keiner käme auf die Idee, die Juden deshalb als „Volk der Täter“ zu bezeichnen. Ergo seien auch die Deutschen kein „Volk der Täter“. Danach war das Dorf monatelang einem (damals noch analogen!) Shitstorm ausgesetzt.

Dann zeigte mir der gute Mann auch noch die ehemalige Synagoge auf der anderen Straßenseite, gleich gegenüber der Eisdiele, selbige in einem schönen Fachwerkhaus, dass sich auch mal in jüdischem Besitz befand. „Von der ursprünglichen Synagoge sieht man ja nichts mehr“, sagte er, „das Haus ist ja mehrfach umgebaut worden.“ Stimmt, dachte ich…umgebaut.

Ansonsten stand dich heute noch vor einem Kindheitshaus der Brüder Grimm in Steinau, fuhr entlang der Leipziger (!) Straße, befand mich immer mal wieder auf der Via Regia, die mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auch von Seume benutzt wurde, durchquerte viele schöne Fachwerkstädte und überhaupt eine schöne, durch die Flussaue der Kinzing und der Salza geprägte Landschaft.

Die Krönung des Tages jedoch war eine E-Mail aus Erfurt, dass ich dort als Gast willkommen bin und kein Quartier suchen muss. Es lebe die internationale Seume-Gesellschaft!


Der jüdische Friedhof mit Blick auf die Kali-Halde vor Neuhof.

Tag 23 Von Gelnhausen nach Fulda

23. Mai 2024, 64,7 km bis km 915,4
Der Morgen in der Aue wie immer recht frisch

Elmar mit seinem Wagen am Fahrrad. Daneben auf der Bank mein Rucksäcklein.

Gasse in Steinau

Neubauten am Rande eines Dorfes

Der jüdische Friedhof mit Gefallenendenkmal.

Auf diesem Bild ist eine ehemalige Synagoge zu sehen (das gelbe Haus neben dem Bus).