Es gibt Geschäftsmodelle, die sind unglaublich: stellen Sie sich vor, Teile Ihres Finanzamtes werden zur Pension umgebaut. Sie wundern sich als Gast über ein merkwürdiges Interieur, seltsam unmotiviert agierendes Küchenpersonal, Lärm in aller Frühe, komische Zettel zu Veranstaltungshinweisen…. So in etwa müssen Sie sich das Sport- und Kongresshotel Hollerau vorstellen. Es ist am Stadtrand integriert in ein Monster von Neubau, das von weitem aussieht wie eine Fabrik. Offenbar zu groß gebaut für die hier sitzende Bundesbehörde, hat man in das Gebäude ein Leistungssportzentrum für Jugendliche und eben dieses Hotel mit aufgenommen, daneben noch diverse Büroflächen vermietet. Das krasseste ist der Speisesaal, der eben das Betriebskantinenimage nicht vertuschen kann. Immerhin, das Quartier war nicht teuer.

Heute bin ich bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt losgelaufen. Meine dicke Jacke habe ich jedoch bald bereut, als ich im Supermarkt stand, wo ich mich noch schnell mit Bananen, Energieriegeln, Nüssen und Schokolade eingedeckt habe. Im Wald lief ich schon im Hemd, gegen Mittag dann nur mit T-shirt. Eine kurze Hose hatte ich selbstverständlich auch an. Kurz nach Hollerau, im eingemeindeten Dörfchen Raschala ging ich zunächst durch die „Alte Poststraße“ und fand dann tatsächlich eine Tafel, auf der erwähnt wurde, dass es sich um die Verbindung Pag – Wien handelte. Mozart soll am Rand des Dorfes zum Pissen ausgestiegen sein, als er zu einer Tournee nach Prag fuhr. Also wird auch Seume hier langgegangen sein. Die Straße nimmt zwischen alten Pressenhäusern und den Portalen der Weinkeller kaum vier Meter ein. Im Wald wurde sie dann noch schmaler, bis ein etwa zwei Meter breiter Hohlweg übrig blieb. Aber wer weiß, ob die Straße nach dem Verlust ihrer Bedeutung nicht einfach nach und nach zugewachsen ist. Auf jeden Fall lässt sich hier belegen, dass Seumes Weg hier nicht durch die Autobahn überbaut wurde, dass er so wie ich die Höhen rauf und runter marschieren musste.

Das klare Wetter bescherte mir wieder schöne Fernsicht von den Hügeln in die Umgebung. Ein Stück musste ich neben der Autobahn gehen, dann aber vor allem Feldwege, die ich noch vor drei Tagen verflucht hätte, als alles durch den Regen aufgeweicht war. Es werden hier Kartoffeln, Mais, Rüben und erstaunlich viel Kürbis angebaut. Erst dachte ich, dass Kürbis hier vielleicht als Zwischenfrucht dient, bis mir klar wurde, dass man offenbar nur an den Kernen interessiert ist. Man sieht Felder, auf denen Massen vor Kürbissen verstreut sind, dann wieder Felder, auf denen die Kürbisse in langen Reihen liegen, so dass sie von Maschinen aufgenommen werden können, und schließlich Felder, auf denen braun verfaulte Kürbisschalen den Boden bedecken.


Der Blick in die Ferne bedeutet mir viel. Nicht nur, dass das gut für die Augen ist. Er vermittelt auch ein Gefühl von Freiheit. Alles scheint unendlich. In Berlin gehe ich manchmal zur nahegelegenen Brücke der Autobahn, weil es der einzige Ort ist, von dem ich den etwa 10 km entfernten Fernsehturm sehe und große Wolken am Himmel, manchmal den Widerschein des Sonnenuntergangs. Diese weiten Blicke habe ich nun den ganzen Tag, dazu Wind und die verschiedensten Gerüche. Das fängt morgens an mit dem Geruch der nassen Wiesen, wenn noch alles betaut ist. Dann riecht man die verschiedenen Felder, faules Obst und den Geruch von Gärung oder Chlor, der aus den Weinkellern weht. Oft rieche ich Vieh oder Ställe, bevor ich entsprechendes sehe. Ja, ich bin ein „Nasenmensch“. Aber offenbar schärft die frische Luft diesen Sinn. Heute habe ich am Nachmittag fast drei Stunden Podcasts gehört. Auf den Feldern verträgt das Ohr etwas Ablenkung, denn ich muss nicht auf Autos achten. Also mal wieder „Lage der Nation“ und „Essay und Diskurs“.

Stockerau ist leider von Autobahnen umgeben und von gnadenlosen Verkehrsströmen durchzogen. Dabei hat die Stadt schöne Altbausubstanz zu bieten. Die billigen Quartiere waren ausgebucht, es sind viele Radfahrer unterwegs, so dass ich heute in ein nicht ganz so preiswertes Hotel einchecken musste. Aber morgen Abend bin ich in Wien und zu meinem dortigen Quartier gibt es eine besondere Geschichte.

Vor drei Jahren habe ich mir mit meiner Gattin ein verlängertes Wochenende in Wien gegönnt, und wie so oft haben wir unser Quartier über homeexchange.com organisiert. Diesmal nicht im synchronen Tausch, sondern mit „Gästepunkten“. Karl hat uns ein fantastisches Apartment zur Verfügung gestellt, aber er war gerade mit Mann in Australien und alles lief digital ab aus der Ferne mittels Schlüsselsafe und elektronischer Zugangskontrolle. Karl habe ich vor einigen Tagen geschrieben und angefragt, ob ich erneut Quartier haben darf, denn ich erinnerte mich, dass die beiden auch Gästezimmer vermieten. Leider werde ich Karl auch diesmal nicht sehen, denn er ist gerade in Amerika. Aber er hat mir für einen absoluten Freundschaftspreis ein Zimmer offeriert. Es ist fantastisch, weil die Lage einfach toll ist, das Haus auch. Schade, dass ich Karl und Co. nun immer noch nur noch aus E-mails und Telefonaten kenne. Aber ich sehe mich bestätigt in meiner Überzeugung, dass es großartig ist, wenn man sich einfach so vertraut und so auf der ganzen Welt ein kleines Netzwerk bauen kann. Also auch an dieser Stelle herzlichen Dank an Karl und Co., und durch diese schöne Geste gehen weitere 80 € in den Topf für die Ukraine.


Das ist der Blick aus einem Hotelzimmer. Ein Hotel, dass zugleich Finanzamt und Trainingslager ist.

Tag 23 Von Hollabrunn nach Stockerau

23.September 2022, 29 km bis km 597,8

Eine alte Poststraße mit zahlreichen Weinkellern.

Seumes Weg - heute eine Autobahn.