Also überquerte ich die Donau bei Stockerau auf der Staumauer des Wasserkraftwerkes Greifenstein. Zuvor ging es durch eine schöne Flussaue mit einigen Altarmen und einer bemerkenswerten Umgehungsstraße für die Fische. Das Stauwerk dient nicht nur der Energiegewinnung, es wurde in den 80ziger Jahren – angeblich – auch angelegt, um dem Grundwasserspiegel in den austrocknenden Auwäldern wieder etwas anzuheben. So sagen es jedenfalls die Tafeln am Wegesrand, und tatsächlich steht da einiges unter Naturschutz. Wobei ich mich da in Österreich zuweilen etwas wundere, denn Wald- und Feldwege sind zum großen Teil in einem geradezu exzellenten Zustand. Breiter Asphalt, planierter Kies, frische Wegemarkierungen, Schilder, vor allem Schilder, die irgendwas mit „Privat!“ verkünden, oder dass der Schnee nicht geräumt wird, auf eigene Gefahr mit Genehmigung der Gemeinde usw..
Von Greifenstein, am wienerischen Ufer der Donau, ging es dann heftig bergauf. Na gut, sagt man sich da, muss halt sein. Dass mir das aber noch weitere zweimal bevorstand, wollte ich nicht so recht glauben. Immer schaute ich auf der Komoot-App, ob es nicht noch irgendwelche flachen Umgehungswege zu den Bergen gibt. Gab es nicht wirklich. Also habe ich an dem Tag 830 m bergauf und 800m bergab gemacht. Deprimierend sind immer die Abstiege ins Tal, denn man weiß ja, gleich geht der ganz Mist wieder bergauf. Positives Fazit nach zum Schluss 34 km: mein Artrosefuß hat die Herausforderung angenommen und schlägt sich wacker. Da sah ich eigentlich ein Risiko, scheint aber nicht gegeben. Sicher ist das aber auch den etwas reduzierten Etappen der letzten Tage zu verdanken.
Die Berge haben einen Vorteil: oben befinden sich Ausflugslokale. Die habe ich in Tschechien stets schwer vermisst. Im ersten, dem am Bürgerspitalwald beim Redingerhüttenweg, habe ich zu Mittag gegessen, und es gab endlich mal nicht nur Fleischberge in der Soßenkatastrophe, sondern ein gutes Linsengericht mit frischem (!) rohen Gemüse in Streifen dazu. Als mich der Keller nach dem Woher und Wohin fragte, drehte sich ein Mann einige Tische weiter um und kam auf mich zu: Andreas, ein Seume-Kenner! Zumindest hat er von ihm und seinen Wanderungen schon mal gehört. Wir kamen sofort ins Gespräch, und wenn alles gut gelaufen ist, konnte ich ihn zur Planung einer Fernwanderung ermutigen. Vor lauter Freunde über den netten Kontakt habe ich dann auf der Toilette meine Wasserflasche stehen gelassen, was mir immerhin 500 m weiter auffiel. Ein Extrakilomterchen…
Je näher ich auf Wien zukam, desto höher wurde die Dichte weiterer Wanderer und Mountainbikefahrer. Alle gut gelaunt und freundlich. Hinter Kierling dann ein weiterer Umweg, weil ich nicht so dreist Elektrozäune überklettern wolle, die eine große Weide umschlossen. Komoot rechnet irgendwie nicht mit der Zaunbegeisterung der Bauern. Dabei sind für mich nicht die Zäune das Problem, sondern die Gäste dahinter. Weiß ich denn, ob unter den grasenden Kühen nicht auch ein wilder eifersüchtiger Bulle hinter dem Busch lauert? No risk, more fun.
Auf dem Hermannskogel (544 m) dann die nächste Einkehr. Mit Tortenschlacht, auf meinem Tisch. Von da ging es abwärts immer auf Wien zu, was man bald aus der Ferne sieht. Bis zu meinem Quartier in der Innenstadt waren es dann noch 10 km, die anfangs durch ein Areal mit imposanten Villen führten. Dann wurde es härter, denn ich lief parallel zu einer Straßenbahnlinie. Bin eisern geblieben. Das ist schon bemerkenswert, wenn am zwei Stunden zu Fuß vom Rand einer Stadt bis zu deren Mitte braucht. Bald steht mir das Vergnügen ja noch in die andere Richtung bevor. Das sind Dimensionen, mit denen Seume wohl gewiss nicht konfrontiert war.
Seume kam in Wien am 26. Dezember 1801 an und ging weiter nach Süden am 10. Januar 1802.
Und jetzt, mein lieber Seume, kommt ein wenig Empirie. Von Dresden (09. Dezember) bis Wien (26. Dezember) hast Du 17 Tage gebaucht, von denen Du wohl mindestens einen in Prag verbracht hast. Auch ist nicht überliefert, wann genau Du in Dresden losmarschiert bist. Aber ich gehe mal davon aus, dass Du von Dresden nach Wien mindestens 15 Tage benötigt hast. Ich habe für die gleiche Strecke (531 km) 18 Tage gebraucht, rechnet man wenigstens einen Ruhetag in Prag dazu, wären es 19.
Seume, Du bist also 531 km in 15 Tagen marschiert, macht pro Tag 35 km. Tageslicht gibt es aber im Dezember in dieser Region nur für ca. 8,5 Stunden. Daraus folgt, dass Du an den Tagen mit durchschnittlich 4,1 km/h gelaufen bist. Damit seien alle Deine Kritiker und gewisse Skeptiker (zu denen ich vor kurzem auch gehörte) widerlegt. Jetzt kann man an der Rechnung noch diverse Verfeinerungen vornehmen: Wie war das mit dem Schnee? Wie viel Zeit hast Du benötigt für die eigene Orientierung? Karten hattest du nicht dabei, aber du konntest natürlich Fuhrleute und andere Fußgänger nach dem Weg fragen. Und gewiss gingst du an der ein oder anderen Stelle auf der Trasse heutiger Schnellstraßen, z.B. bei Stannern, so dass du hier weniger Kilometer hattest als ich, der diese Trassen auf wild durchs Gelände führenden Wegen umgangen ist. An anderen Stellen wirst du meine „Abkürzungen“ durch Wald und Feld vermieden haben. Skepsis bleibt bei der Megaetappe vor Prag, siehe hierzu meinen entsprechenden Blogeintrag zur Etappe bis Prag. Ein Freundin erklärte mir später, man sei im 19. Jahrhundert durchaus bei Schnee gegangen, denn so waren Bäche gefroren und Mondlicht war heller.
Heute (25.09.2022) mache ich Ruhetag in Wien. Soeben habe ich noch mal meine Gesamtplanung angesehen. Nach den bisherigen Erfahrungen werde ich voraussichtlich acht zusätzliche Tage benötigen. Dann wäre ich nach meinen Planungen exakt am 23.12. wieder in Berlin. Zum Glück wird in unserer Familie kein so großer Wert mehr auf Weihnachtsgeschenke gelegt…
Gerade bin ich zum ersten Mal in meinem Leben in einem Waschsalon. Kostet für mein bissel Kram knapp 15 € inkl. Trocknen. Ist also nicht wirklich eine Lösung für arme Menschen. In der DDR gab es keine Waschsalons, danach hatte ich immer eine Waschmaschine oder kannte Leute.
Und wie ging es Seume so in Wien?
Ja, das ist die Frage, wie das heute so ist. Mir brandet allerorten der Wohlstand entgegen, und trotzdem wählten hier zuletzt knapp 20 % FPÖ. Reichtum macht unzufrieden, denk ich da manchmal.
Nachher noch ins Museum, wenn ich denn schon mal hier bin. Den Rest des Tages Bürokram.
Endlich wieder in einer richtig großen Stadt.
Tag 24 Von Stockerau nach Wien, Tag 25 Ruhetag in Wien
24. und 25. September 2022, 34 km bis km 638,8
Die aufgestaute Donau hinter Stockerau