Ich bin jetzt ca. 430 km gelaufen. Allmählich befällt mich beim Gehen etwas Langeweile. Ich schaue aufs Telefon nach der Route, denkbaren Abkürzungen, drohenden Irrtümern zur Geländebeschaffenheit. Und ja, zuweilen kommt ein beklemmendes Gefühl. Wie wird es mir gehen auf den restlichen gut 2.000 km, die zu wandern sind? Wenn das Gehen an sich zur Routine geworden ist, kommt dann eine langweilige, sich irgendwie wiederholende Landschaft wie Blei über mich? Am Nachmittag kleben die Kilometer an den Sohlen wie Lehm. Ich freue mich auf den Feierabend, aber der ist dann auch irgendwie öde, wenn man allein auf dem Hotelzimmer sitzt. Es wird jetzt eher dunkel, die Himmel sind herbstlich, kein Wetter, um abends nett in einem Straßencafé zu sitzen. So wie Seume freue ich mich auf Italien. Aber vor mir liegen noch die Pässe in Österreich, die Planina in Slowenien, Autobahnen, die es irgendwie zu meiden gilt.
In meinem Kopf schwingt die vorwurfsvolle Frage meiner Gattin: warum machst du das überhaupt? Im Sommer 2020 gestellt, in Brandenburg, als ich mitten in einer Wanderung durch die Ödnis steckte, es heiß war, die Füße zerschunden.
Quasi zur Selbstvergewisserung will ich meine Motivation noch mal beschreiben.
Als erstes treibt mich die Neugier auf die Landschaften, die nicht im Reiseführer stehen. Die sind für mich fotografisch durchaus interessant. Und es gibt etwas zu erzählen, zu den unspektakulären Orten, die doch irgendwie auch auf ihre Weise spektakulär sind.
Dann ist da die große Faszination von Johann Gottfried Seume. An meinen Inspirator muss ich oft denken. Wo könnte er langgegangen sein? Wie hat er seinen den Weg gefunden? Nie erwähnt er Karten, die er bei sich gehabt haben könnte, auch keinen Kompass. Wegweiser oder gar ausgeschilderte Wanderwege wird es nicht gegeben haben. Ging er leicht zu findende Routen, eben die Poststraßen? Oder ging er auch mal querfeldein durchs Gelände? Konnte er über Feldraine und kleine Pfade einen kürzeren Weg nehmen als ich, der oft in aberwitzigen Haken dem Verlauf der riesigen Maisfelder folgen muss? Wie oft blieb er stehen, um nach dem Weg zu fragen? Oder folgte er einem großen Tross anderer Fußreisender? Nur selten erwähnt Seume das Wetter. Aber wie lief es sich in durchweichten Lederstiefeln im Schnee, den er wohl erwähnt?
In einem meiner letzten Beiträge habe ich nachgerechnet, welches Tagespensum er zu bewältigen hatte, bei optimistischer Betrachtung waren das mindestens 30 km. Was mir aber erst gestern klar wurde: er hatte dafür im Dezember 1801 in der nördlichen Hemisphäre viel weniger Zeit als ich jetzt im September, denn es wurde ja früh am Nachmittag dunkel. Straßenbeleuchtung gab es bestenfalls in Städten. Wie hat er seinen Weg gefunden, wenn er im Dunkeln durch den Wald gestolpert ist? Immerhin ist in Goethes Italienreise überliefert, dass die Kutschen auch nachts gefahren sind. Ich bin da noch zu keinem Ergebnis gekommen in der Frage, ob Seume getrickst hat, oder ob ihm Aufschneiderei einfach nur nachgesagt wird. Am dreistesten ist da ja die Behauptung, er sei in Wirklichkeit nie auf Sizilien gewesen, hätte alles nur aus Reisführern abgekupfert. Ich will also am lebenden Objekt erst mal den Beweis abliefern, dass man in den Dimensionen eines Fußgängers die Reise tatsächlich machen kann. Mein Respekt gilt jedenfalls uneingeschränkt dem großen Meister, der über eine gigantische Fitness – auch im Kopf – verfügt haben muss mit damals 38 Jahren.
Mich fasziniert aber auch der Kampf mit dem eigenen Körper, der in erster Linie ein Kampf mit dem Kopf ist. Was geht noch? Wo sind die Grenzen? Diese Frage sollte man als Mensch ab und zu mal für sich ergründen. Im Alter ist es auch interessant, festzustellen, wie trainierbar doch der Körper noch ist. Ich denke ab und zu mal: das wird das Finale deiner körperlichen Leistungsfähigkeit sein, danach kommt nichts mehr, danach geht die Straße des Lebens bergab.
Neben der fotografischen Arbeit, sehen, was Seume gesehen haben könnte, heute sehen würde, steht für mich auch ein politisches Projekt (was auch in der fotografischen Arbeit seinen Niederschlag finden wird). Den europäischen Gedanken fördern. Daher auch meine flaggenbestückte Schärpe. Allerdings provoziert die bisher kaum zu Fragen. Vielleicht wird das in anderen Ländern anders sein? Wächst die Neugier mit der Entfernung zu Deutschland?
Täglich veröffentliche ich meine Wanderstrecken auf Komoot. Man kann sie also nachwandern. Aber Achtung: die Strecke und die Entfernungen haben es in sich, nicht immer war mein Weg der optimale und nicht bei jedem Wetter wird jede Strecke „schön“ sein. Man kann das auf keinen Fall mit dem Rad fahren, auch nicht mit dem Roller. Oft habe ich mir Wege gewählt, die wirklich nur zu Fuß gehen. Und ein vorbereitendes Training wäre auch erforderlich. Oft ist man allein in weiter Flur, Erschöpfung bis zum Ende kann da gefährlich werden. Und ich gehe davon aus, dass leider nur wenige Zeitgenossen die Möglichkeit haben, mal eben so dreieinhalb Monate am Stück wandern zu gehen. Ich musste dazu nicht nur „Teilzeitprivatier“ werden, sondern eine Reihe von organisatorischen Vorbereitungen treffen. Aber man kann die Tour ja auch in Etappen oder länderweise machen. Wer meinen Bericht liest oder sich die Strecken von Komoot herunterlädt, spart sich schon mal einigen Aufwand.
Jihlava ist eigentlich ganz nett, wenn nicht grad eiskalter Wind durch die Gassen fegt. Es gibt eine wirklich schöne, auf dem Hügel gelegene Altstadt mit vielen Kneipen und Cafes. Sehr viel historische Bausubstanz und wunderbares buckliges Kopfsteinpflaster. Die Stadtmauer ist in weiten Teilen erhalten. Trolleybusse durchqueren den Markt, einige Straßen sind verkehrsberuhigt oder so schmal, dass sowieso kein Auto durchkommt.
Und was schreibt Seume:
Bild unten: Blick auf den Markt von Jihlava (Iglau) heute.
Fassade in Jihlava (aber es sieht dort nicht überall so aus)
Tag 17 Ruhetag in Jihlava
17.September 2022, km 428,8