Aber mein rechter Fuß braucht dringend eine Pause. Das Gelenk ist etwas geschwollen. Der linke, der eigentlich durch Arthrose geschädigt ist, macht hingegen keinerlei Probleme. Ich musste auch mal Wäsche waschen, die zum Trocknen mehr als eine Nacht braucht. Und man braucht auch mal Zeit zum Reflektieren. Dr. Google diagnostiziert für meinen rechten Fuß zuverlässig Symptome eines Ermüdungsbruchs. Über dieses Phänomen hatte mir vor Jahren eine exzessiv Mountainbike fahrende Bekannte berichtet, die Plötzlich mit Schienen am Bein unterwegs war. Für Arztbesuche oder eine mehrtägige Krankschreibung habe ich eigentlich keine Zeit. Eine solche Unterbrechung der Reise bedeutet ja auch für viel Geld untätig im Hotel sitzen. Ein Ermüdungsbruch entsteht schleichend, wenn der Knochen nicht mehr hinterherkommt, im Zuge der Dauerbelastung das Gewebe zu regenerieren. Der Knochen wird weich und bricht irgendwann. Also schlucke ich ordentlich Magnesium, Vitamin D und esse in den kommenden Tagen sehr viel Käse. Heute kann ich sagen: Gefahr erkannt, Gefahr gebannt. Tatsächlich war mein rechter Fuß dann nach einigen Tagen wieder ok. Ich bin jedoch auch sehr langsam und vorsichtig gegangen.
Was mir auffällt ist, dass ich mich kaum mehr erinnere, was ich eigentlich vor einer Woche gemacht habe. Die Eindrücke sind derart vielfältig, quantitativ einfach überwältigend, dass ich heilfroh bin, dass ich täglich einen kleinen Reisebericht geschrieben habe, dass Komoot, die Wander-App, die ich benutze, im Hintergrund fleißig den Weg aufzeichnet, Statistiken führt. Schaue ich mir die auf Komoot aufgezeichneten Wanderungen an, die längere Zeit zurückliegen, staune ich: Mensch, da warst du ja auch, verdammt, entlang dieser Straße, das war ätzend, da oben im Karst, das war faszinierend, schade, dass ich nicht mehr an der Küste bin usw. Ich stelle mir vor, wie das wohl vor 40 Jahren gewesen wäre.
Ich hätte die Filmrollen nummerieren müssen, damit ich sie chronologisch zuordnen kann, denn es wären vermutlich 50 Stück gewesen, 36 Aufnahmen für 2 Tage. Dann wiederum Tagebuch schreiben müssen, gut das mache ich heute auch. Ich weiß nicht, wie genau die Karte hätte sein müssen, die ich mitgenommen hätte. Wanderkarten für ein so großes Gebiet, hätten mehrere Kilo gewogen. Eine grobe Karte hätte sicherlich dazu geführt, dass man manchen Umweg gegangen wäre. Vielleicht hätte ich „abgelaufene“ Karten mit eingezeichneten Routen von unterwegs immer nach Hause geschickt. So wie ich heute sorgfältig Datensicherung betreibe, hätte ich damals panische Angst um den Verlust der Filme gehabt oder davor, sie wochenlang bei vergleichsweise hohen Temperaturen im Rucksack zu transportieren. Ich hätte einen Sprachführer oder ein kleines Wörterbuch mitgenommen und viel, viel Bargeld, Reisechecks oder ähnliches. Und vermutlich hätte ich auch Zelt und Schlafsack schleppen müssen, denn feste Quartiere hätte ich mir damals nicht leisten können. Alles wäre etwas umständlicher gewesen. Gewichtsersparnis und den zusätzlichen Komfort, den allein ein Smartphone bewirkt, sind unglaublich. Daher hüte ich es auch wie meinen Augapfel. Aber auch die einheitliche Währung im Euroraum und das bargeldlose Zahlen sind ein Segen.
Umso größer ist meine Bewunderung für Seume und all seine Zeitgenossen, die damals gereist sind. Ich glaube, ich hätte schon angesichts der hygienischen Zustände eine Krise bekommen. In Seumes Fall staune ich aber auch über die unglaubliche tägliche Kilometerleistung. Er hat 40, teilweise 60 km pro Tag bewältigt, angesichts der kurzen Tageslichtphasen teilweise im Dunkeln.
Ich bewundere aber auch Seumes psychische Resilienz. Niemand ist ihm auf Facebook gefolgt, niemandem wäre es aufgefallen, wenn er aufgegeben hätte. Und es hätten auch nur wenige Notiz genommen, wenn er schwer erkrankt oder verhaftet worden wäre. Er hatte ja nicht nur Freunde. Ich staune aber auch angesichts seiner intellektuellen Leistung. Er muss sich auf die Reise gut vorbereitet haben, denn er hat gezielt auch einige Sehenswürdigkeiten und Kunstschätze aufgesucht, hatte ein profundes Wissen zur Antike und den aktuellen politischen Ereignissen. Er war in Italien besser vernetzt, als ich es heute bin. Und er verfügte offenbar auch über gute geografische Kenntnisse. Bei allen Marotten, die er hatte, bei allen Zweifeln daran, ob er wirklich alles gelaufen ist und nicht doch öfter auf Fuhrwerken mitgefahren ist als eingestanden – er bleibt ein großes Vorbild.
Seume ist für mich aber auch ein Vorbild, weil es ihm gelungen ist, sich von der Ideologie der Kirche seiner Zeit weitgehend freizumachen. Das war mutig, vor allem auch mutig, weil er seinen Zweifel an der Wohltätigkeit dieser Institution offen in Wort und Schrift vertrat.
Bemerkenswert ist auch sein Humanismus, seine Empathie für Arme und Schwache, sein Stolz, sich den Vermögenden nicht blind anzubiedern. Er betrachtet die Menschen, denen er auf seiner Reise begegnet, zum Teil mit Ironie, aber kaum mit Arroganz.
Seumes Kritik an der Kirche kann man in der Umgebung von Rom gut nachvollziehen. Es ist einfach unglaublich, mit welcher Anzahl von Kirchen, Kapellen, Kruzifixen, Pilgerwegmarkierungen, Namen von Städten und Straßen die Kirche hier ihre Zeichen der Macht wie selbstverständlich platziert hat. Würde man die Namen von Städten und Straßen in Italien alphabetisch sortieren – der Buchstabe „S“ würde die Liste angesichts der unzähligen „Sancti“ dominieren. Könnte man sich vorstellen, in Deutschland würde ein Gewerbegebiet (!) nach dem heiligen Sebastian benannt? Gibt es in Italien durchaus.
Immerhin: vereinzelt hängen Regebogenflaggen an Häusern. Natürlich nicht an Pfarrhäusern.
Marino, Blick in Richtung Rom am Morgen