Zunächst musste ich jedoch Usti durchqueren, eine Stadt, in der der sozialistische Brutalismus schwer gewütet hat. Es gibt kein wirklich attraktives Stadtzentrum. Gleich beim Bahnhof ist eine riesige Shopping Mall, von der eine Seilbahn auf den Hügel führt, den ich nach dem Verlassen der Stadt erklimmen musste. Leider habe ich das mit der Seilbahn zu spät bemerkt. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass eine Seilbahn aus einer Shoppingmall startet. Ich musste mich aber nicht ärgern, denn an der Bahn wurden gerade Wartungsarbeiten durchgeführt. So hatte ich denn meine erste Pause an einem alten Ausflugslokal auf dem Berg neben der Stadt. Von unten brandete Autolärm nach oben, und aus einem Kraftwerk war ein unaufhörliches lautes Zischen zu hören.
Dann ging es weiter bergauf an Kleingärten und einzelnen Häusern vorbei, abwechselnd durch den Wald und über die Felder. Ich vermisste die Obstbäume, die mir bei auf den Wegen zwischen Grimma und Dresden noch Abwechslung und Erfrischung spendeten. Obwohl das Klima milder und feuchter ist, gibt es so gut wie keine Obstbäume an den Wegen, bestenfalls in Gärten hinter den Zäunen. Erst kurz vor Lovosice habe ich mich an Weinreben ein wenig bedient.
So war es denn ein Tag mit anstrengenden Auf- und Abstiegen, zusammen ungefähr 650 Höhenmeter, was bei der Hitze nicht einfach war. Hitze: das ist bei mir inzwischen alles über 24°C, denn der Rucksack wärmt wie eine zusätzliche Jacke. Hinzu kommt die Notwendigkeit, sich vor der Sonne zu schützen. Das geht leider am effektivsten mit Mütze und langärmliger Kleidung. Doch selbst wenn ich nur im T-Shirt und mit aufgekrempelten Hosenbeinen laufe, ist mir das oft zu warm. Während ich in den vergangenen Tagen im Durchschnitt mit 5,5 km pro Stunde gelaufen bin, kam ich gestern nur auf 4 km/h. Das war nach dem Tag durch das Erzgebirge die zweite Bergwertung. Die restliche Strecke bis Prag ist angenehm flach.
Aber es war wieder eine faszinierende Landschaft. Natürlich läuft man bei so langen Strecken auch das ein oder andere Stück Asphaltstraße. Aber die meiste Zeit ging es über schmale Wanderwege durch die Hügel, auf Feldwegen über schöne Wiesen und ein Stück tatsächlich entlang der Elbe auf einem Treidelweg.
Die Mühen des Tages wurden belohnt mit schönen Ausblicken auf die Elbe, die hier zum Teil ganz breit ist, weil es Staustufen gibt. An einer Stelle entdeckte ich vom Ufer aus sogar Seerosen.
Das Gebirge hier besteht nicht aus Sandstein, sondern ist vulkanischen Ursprungs. Humboldt hat hier einige geologische Reisen unternommen. Der Schotter auf den Wegen ist meistens schwarz von Basalt und Granit.
Auf den letzten Kilometern bis zu meinem Tagesziel, dem kleinen Ort Keblice, hörte der Regen auf und es gab wunderbares Licht. Ein riesiges Rotkohlfeld floss förmlich mit dem violetten Himmel zusammen. Kaum hatte ich den Ortseingang erreicht, kam mir schon mein Freund Ivan N. mit seinem schicken Elektroflitzer entgegen.
Ivan zählte zu den ersten neu gewonnenen Freunden in Berlin, als wir 2004 gerade in diese Stadt gezogen sind. Er ist Architekturfotograf und sprüht vor Energie, wenn er es sich in den Kopf gesetzt hat, ein Projekt zu realisieren. Seit vier Jahren ist er darum bemüht, die alte Festung Theresienstadt, die auch eine schlimme Geschichte als von den Nazis eingerichtetes Ghetto hat, vor dem Verfall zu retten. Theresienstadt leidet unter einem akuten Bevölkerungsrückgang, viele Gebäude stehen leer. Ivan hat das Ziel, ein richtiges Stadtentwicklungskonzept zu entwerfen. Gerade heute hatte er ein vielversprechendes Gespräch mit Vertretern der tschechischen Regierung.
Das Licht des Abends reichte gerade aus, dass Ivan mir noch eine kurze Führung zuteilwerden ließ. Ich war zuvor noch nicht in Terezin, wusste lediglich Ungefähres von der Nutzung als Ghetto. Es ist eine der größten Festungen Europas, war während und nach der Nazi-Zeit Gefängnis.
Ich habe Ivan zum Essen eingeladen, und dann bekam ich seine Wohnung als Quartier, er schlief in seinem Studio.
Seume war nachweislich nicht in Theresienstadt. Aber wer auch immer dem von mir vorgeschlagenen Seumeweg folgt, sollte sich Zeit nehmen, die alte Festung mit ihren verschiedenen Museen zu besichtigen. Und ja, auch das, was an das Ghetto und all die Verbrechen erinnert.
Blick auf eine Schleife der Elbe von den Höhen der alten Satzstraße
Tag 6 Von Ústí nad Labem nach Keblice
Im Zentrum von Usti
Auf dem Plateau über der Elbe. Entlang der alten Salzstraße. Im Hintergrund Vulkankegel.