Die lange hügelige Etappe gestern steckte mir etwas in den Knochen, so dass ich ganz froh war, über nicht allzu viele Kilometer heute. Ich hatte schlecht geschlafen. Mein Quartier bevölkerten leider auch einige junge Leute, die bis Mitternacht lärmten.

Hinter Macerata war zunächst starker Berufsverkehr, dann ging es über schmal Straßen, die wenig befahren waren. Ich war zeitig los und sah eine tief stehende Sonne über nebeligen Tälern. Aber bald schon musste ich wieder eine fußweglose Fernstraße nehmen.

In Sforzacosta landete ich für mein zweites Frühstück ausgerechnet in einem Bioladen. Ich kaufte Möhren und Äpfel und ließ mir ein Stück vegetarische Pizza warmmachen. Dazu gab es schwarzen Tee. Valentina, die mich bediente, erklärte, der Tee würde mich entgiften. Das wollte ich nicht recht glauben, hätte es aber angesichts der schon konsumierten Abgaswolken durchaus gebrauchen können. Wie immer habe ich etwas vom Grund meines Wanderns erzählt, dann unterhielten wir uns über Teezubereitung.

Der restliche Weg nach Tolentino ging größtenteils wieder über schmale angenehme Straßen. Mich begleiteten allerdings die ganze Strecke die Autobahn und – eingegraben in eine tiefe Rinne – der Fiume Chiente.

Tolentino ist wieder so eine kleine Geheimtipp-Stadt. Vor einigen Jahren hatte es hier ein stärkeres Erdbeben gegeben. An vielen Häusern sind Gerüste zur Stabilisierung und Gerüste mit Brettern gegen herabfallende Teile. Die Altstadt ist wunderbar entspannt. Viele krumme Gassen umschließen den Platz der Freiheit, an dem ein großer Turm mit einer astronomischen Uhr steht. Ich habe ein wunderbares Quartier im Parterre eines mittelalterlichen Hauses, toll eingerichtet, geräumig und mit Zutritt zum Garten. Das Beste aber: es gibt eine Miniküche nur für mich und eine Heizung.

Und was schreibt Seume?

„In Tolentino gings gut, und ich ließ mich überreden von hier aus durch die Apenninen, denen man nichts gutes zutraut, ein Fuhrwerk zu nehmen, um nur nicht ganz allein zu sein. Hier kommt der Chiente den Berg herunter und ist für Italien ein ganz hübscher Fluß, hat auch etwas besseres Wasser als die übrigen. Man geht nun einige Tagereisen zwischen den Bergen immer an dem Flusse hinauf, bis zu seinem Ursprunge bei Colfiorito, wo er aus einem See kommt, in welchem sich das Wasser rund umher aus den höchsten Spitzen der Apenninen sammelt. Ich hatte einen Wagen gemietet, aber der Wirt als Vermieter kam mit der Entschuldigung: es sei jetzt eben keiner zu finden; ich müsse zwei Stunden warten. Das war nun nicht erbaulich. Ärgernis hätte mich aber nur mehr aufgehalten; ich faßte also Geduld und ließ mich mit meinem Tornister auf einen Maulesel schroten; mein Führer setzte sich, als wir zur Stadt hinaus waren, auf die Kruppe, und so trabten wir italienisch immer in den Schluchten hinauf. Diese wurden bald ziemlich enge und wild, und hier und da aufgehangene Menschenknochen machten eben nicht die beste Idylle. Ich blieb auf einer Station, deren Namen ich vergessen habe, nicht weit von dem alten Kamerinum, dessen Livius im punischen Kriege sehr ehrenvoll erwähnt. Hier pflegte man mich sehr gastfreundlich und ich erhielt den bedungenen Wagen nach Foligno.“

Ich werde mich morgen an die Straße stellen und trampen. Wenn das bis Mittag nicht klappt, nehme ich den Bus, der bis Foligno etwa eine Stunde braucht. Übrigens schrecken hier an den Straßen keine Menschenknochen mehr die Räuber ab, sondern Warnschilder für „Blitzer“, wobei selbige meistens defekt sind, wie man aus der Nähe sehen kann.

Hügel hinter Macerata am Morgen

Tag 72 Von Macerata nach Tolentino

11. November 2022, 24 km bis km 1.906

Valentina in ihrem Laden

Die kleinen Asphaltstraßen sind am angenehmsten zu gehen.

Eine historische Brücke führt in die Altstadt von Tolentino. Seume erwähnt sie.