Also versorge ich mich im Supermarkt und beziehe mein Hotelzimmer. Tatsächlich versuche ich aber, mal einen Tag einzulegen, an dem die Füße nichts zu tun haben, außer im Bett herumzuliegen. Zeit auch für ein paar Gedanken am Tag 30 meiner Reise nach 750 km bei durchschnittlich 30 pro Tag.
Mich beschäftigt bei all dem Schauen immer noch der Begriff der „idealen Landschaft“ nach Lucius Burghardt. In Österreich fällt mir die Zersiedelung besonders stark auf. Da wird da eine Kaufhalle, dort eine Tankstelle, anderswo ein wenig Gewerbe an den Rand der Dörfer gestellt, die sehr oft typische Straßendörfer sind. Sie ziehen sich in die Länge, es gibt kein wirkliches Zentrum, und sie zerfasern da, wo sie nicht in engen Tälern liegen in gesichtslose Eigenheimsiedlungen. Gewiss, mir sind auch Reihenhauskomplexe aufgefallen, die in einem durchgängigen Stil in kubischen Formen als Ensemble angelegt wurden. Aber anders als in Böhmen, Thüringen, Sachsen, ja eigentlich überall in den neuen Bundesländern, gibt es oft keine scharf verlaufende Grenze zwischen Siedlungsraum und umgebender Landschaft.
Das, was man als „schön“ bezeichnen könnte, egalisiert sich mit der Zeit. Flussufer, Berge, Wolken – ich sehe es ununterbrochen. Es stellt sich eher die (fotografietheoretische) Frage, ob man nicht ALLES auch schön oder nichtschön sehen kann, durch die Wahl des Bildausschnittes, durch farbliche Verfremdung. So wie man subjektiv, durch das eigene ästhetische Bildgedächtnis, den Kanon des schon tausendmal Gesehenen, eine Landschaft „schön“ fotografieren kann, passiert auch das Umgekehrte. Das, worauf die Einheimischen stolz sein mögen, ihre Berge z.B. oder die Pestsäule, perlt an mir ab, weil ich es (nicht mehr) sehen kann oder in einer bestimmten Verfassung, z.B. der der Erschöpfung, nicht sehen will. Gleichwohl zwinge ich mich zu einer Sensibilität, was harte Arbeit ist. Ich bin ja hier, um eine Geschichte zu erzählen, eine, deren Ausgang ich nicht kenne, von der ich nicht weiß, ob sie so interessant wird, dass andere sie hören/sehen wollen.
Auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage „Was würde Seume heute sehen?“ ertappe ich mich bei gelegentlicher Unsicherheit. Mich reizt es, ein schönes Wolkenbild, einen interessanten Horizont, ein bestimmtes Licht zu fotografieren, und denke in dem Moment: Seume hätte dies vor 220 Jahren auch gefallen. Ja, es hat sich in den letzten 220 Jahren an dem, was ich so und im Moment sehe, eigentlich nichts geändert. Dann wieder reizen mich Zerstörungen der Landschaft, z.B. durch Schallschutzmauern, Verkehrstrassen, Bautätigkeit im weitesten Sinne, Monokultur in der Landwirtschaft, bei denen ich mir denke: was hätte Seume dazu gesagt? Wäre er fasziniert, neugierig, empört?
Ich habe mir die Regel aufgelegt, an jedem Tag, beginnend mit dem Schritt vor die Tür des Quartiers, jeweils nach 5 km Weg ein Bild zu machen. Das soll verhindern, dass ich immer nur dann fotografiere, wenn es gerade schön, spektakulär, besonders hässlich ist usw. Dieser Zufallsgenerator führt mich manchmal tatsächlich an schöne Orte, manchmal zwingt er zu einer Überlegung, was ich denn jetzt wohl fotografieren könnte. Manchmal reicht die Energie aber auch nur für ein Statement: ja, ich bin hier gelandet, so sieht es hier aus, mehr war nicht. Ich denke, dass gerade die so entstandenen Bilder banaler Motive für die Bildstrecke nicht unwichtig sind: sie sorgen für eine gerechte statistische Verteilung. Das, was Landschaft ist, und jetzt komme ich zurück zu Lucius Burghardt, bestimmt ja nicht der Mensch, sondern es ist Teil der von uns unabhängigen Wirklichkeit, wenn wir mal von allerlei menschlichen Eingriffen in die Landschaft absehen.
Vor einigen Tagen las ich, britische Wissenschaftler hätten die (nicht so wahnsinnig neue) These aufgestellt, die Menschen würden untergehen, weil sie perspektivisch von irgendeiner Künstlichen Intelligenz in den Abgrund geführt würden. Tatsächlich gibt es bereits heute eine Maschine, die uns zu beherrschen scheint, die uns durch Bewegungsarmut in den körperlichen Verfall führt, die uns mit Lärm und giftigen Substanzen überschüttet, die uns zu Umwegen zwingt, wenn wir sie nicht benutzen, die uns Raum nimmt, die unseren Fokus so vereinnahmt, dass wir ihr alle Aufmerksamkeit widmen und elementare Gefahren ausblenden (das Auto).
Das erlebt man (nicht nur in Österreich) wenn man wieder längere Zeit zu Fuß unterwegs ist und sich die Frage stellt: Für wenn wurde all das gebaut? Für die Menschen?
Österreich und der Kaiser.
Ich bin ja manchmal schon frustriert, wenn in Deutschland irgendjemandem überdurchschnittlich viel Aufmerksamkeit gewidmet wird, und wenn diese Peron irgendeinen Adelstitel trägt. Aber die Titel- und Adelsgläubigkeit der Österreicher ist unglaublich. Da stehen diverse Kaiserdenkmäler herum, als hätte es die (begründete!) Abschaffung der Monarchie nie gegeben. An manchem Park, mancher Bank, manchem Wanderweg finden sich Tafeln, unter welcher Regentschaft, Mitwirkung usw. (manchmal irgendwelche Bürgermeister, Regierungsräte, Gymnasialdirektoren) hier Werte geschaffen wurden, als sei kein einziger Arbeiter daran beteiligt gewesen. Am schlimmsten jedoch sind für mich (wie auch in Teilen Ostdeutschlands) Kriegerdenkmäler zu den Weltkriegen, in denen pauschal die HELDEN verehrt werden. Ab und zu, aber nicht an exponierter Stelle und schon gar nicht neben der Kirche, finden sich Erinnerungstafeln an Antifaschisten.
Immerhin ein Gutes hat das Autoritätengedusel: ich werde hier auf den Dörfern von wildfremden Kindern und Jugendlichen (!) einfach so, also unaufgefordert, und ohne dass ich es provoziere, gegrüßt. Wo man in Deutschland die Zähne auch nicht einen Millimeter auseinanderkriegt, tönt mir hier ein „Grüß Gott!“ oder „Hallo“ entgegen. Fehlt nur noch der Nachsatz „Herr Doktor“.
Mürzzuschlag ist ganz nett zum Ausruhen. Im Hotel. Das wars dann aber auch.