Leider ist mein linker Fuß ziemlich am Ende, die Blasen geben keine Ruhe. Und heute musste ich wegen des Regens die einen Tick unbequemeren Stiefel tragen. Die haben die Füße ordentlich trocken gehalten. Weil sie aber fester und etwas steifer sind als die Halbschuhe, provozieren sie die schmerzhaften Dellen in der Haut. Daher wird es morgen einen vorgezogenen Ruhetag geben, zumal das Hotel in Mürzzuschlag nett und das Zimmer komfortabel ist. Der Fuß braucht mal eine kleine Heilungschance, die er offenbar bei 27 Tageskilometern nicht hat.

Heute Morgen habe ich vor dem Abmarsch noch den letzten Rest des Silikonsprays aus der Flasche gelassen. Es wollte und wollte nicht aufhören zu regnen. Einen weiteren Tag im Hotel in Gloggnitz wollte ich aber auf keinen Fall verbringen. Das ist ein Bau, der die letzte größere Renovierung im Jahre 1976 gesehen hat. Ein Paradies für Fans der 80iger Jahre: alles ist braun, beige, gelb, dunkelbraun. Der Erfinder von Eiche rustikal hat hier offenbar mehrere Wochen getobt, um dem Stil zum Durchbruch zu verhelfen. Ihm gelang ein homogenes Stilensemble. Plastikblumen, aber nur zwei Steckdosen im Zimmer, davon eine im Bad. Bett mit Brett für die Füße (der Hass aller größeren Menschen) und maschinengeschnitztes Kruzifix über dem Bett. Aber was will man machen: der Inhaber ist ein netter gutmütiger Kerl, der mit mir noch den heutigen Weg besprach, und aufmerksam meinem Seume-Schnellkurs lauschte. Also: nichts verändern und warten, bis der Denkmalschutz vorbeikommt!

Zu Gloggnitz kann man auch wieder nur sagen: wie Gronau. Immerhin, den empfohlenen Bahnwanderweg habe ich nur in kleinen Portionen genommen, denn er wich in großen Trapezen der geraden Linie der Bundesstraße aus, brachte mich aber nicht schneller durch den Regen.

Tatsächlich kam ich in Schottwien vorbei, daher jetzt das Seume Zitat des Tages:

"Eine Stunde von Schottwien fängt die Gegend an herrlich zu werden; vorzüglich macht ein Kloster rechts auf einer Anhöhe eine sehr romantische Partie. (Das ist in Gloggnitz – e.p.) Das Ganze hat Ähnlichkeit mit den Schluchten zwischen Außig und Lowositz; nur ist das Tal enger und der Fluß kleiner; doch sind die Berghöhen nicht unbeträchtlich und sehr malerisch gruppiert. Das Städtchen Schottwien liegt an dem kleinen Flüßchen Wien zwischen furchtbar hohen Bergen, und macht fast nur eine einzige Gasse. Vorzüglich schön sind die Felsenmassen am Eingange und Ausgange.

Es hatte zwei Tage ziemlich stark gefroren und fing heute zu Mittage merklich an zu tauen; und jetzt schlagen Regengüsse an meine Fenster und das Wasser schießt von den Bergen und der kleine Fluß rauscht mächtig durch die Gasse hinab. Mir schmeckt Horaz und die gute Mahlzeit hinter dem warmen Ofen meines kleinen Zimmers vortrefflich."

Und über den Semmering schreibt er einen Tag später in Mürzzuschlag, dort, wo ich heute auch nächtige:


"Von Schottwien bis hierher war heute in der Mitte des Januars eine tüchtige Wandlung. Der Sömmering ist kein Maulwurfshügel; es hatte die zweite Hälfte der Nacht entsetzlich geschneit; der Schnee ging mir bis hoch an die Waden; ich wußte keinen Schritt Weg, und es war durchaus keine Bahn. Einige Mal lief ich den Morgen noch im Finstern unten im Tal zu weit links, und mußte durch Verschläge in dem tiefen Schnee die große Straße wieder suchen. Nun ging es bergan zwei Stunden, und nach und nach kamen einige Fuhrleute den Sömmering herab, und zeigten mir wenigstens, daß ich dorthin mußte, wo sie herkamen. Links und rechts waren hohe Berge, mit Schwarzwald bewachsen, der mit Schnee behangen war; und man konnte vor dem Gestöber kaum zwanzig Schritte sehen. Oben auf den Bergabsätzen begegneten mir einige Reisewagen, die in dem schlechten Wege nicht fort konnten. Der Frost hielt noch nicht, und überdies waren die Gleise entsetzlich ausgeleiert. Herren und Bedienten waren abgestiegen und halfen fluchend dem Postillon das leere Fuhrwerk Schritt vor Schritt weiter hinaufwinden. Ich wechselte die Schluchten bergauf bergab, und trabte zum großen Neide der dick bepelzten Herren an dem englischen Wagen fürbaß. Ein andermal rollten sie vor mir vorbei, wenn ich langsam fortzog. So gehts in der Welt: sie gingen schneller, ich ging sicherer. Auf dieser Seite des Sömmerings kommt aus verschiedenen Schluchten die Wien herab; und auf der zweiten Hälfte der Station, nach Mürzzuschlag, nachdem man den Gipfel des Berges erstiegen hat, kommt eben so die Mürz hervor, und ist in einer Stunde schon ein recht schöner Bach. Bei Mürzzuschlag treibt sie fast alle hundert Schritte Mühlen und Hammerwerke bis herab nach Krieglach, wo sie größer wird, nun schon einen ansehnlichen Fluß bildet, und nur mit Kosten gebraucht werden kann. Es ist angenehm, die Industrie zu sehen, mit welcher man das kleine Wässerchen zu seinen Behufen zu leiten und zu gebrauchen weiß; und die kleinen Täler an dem Flusse herunter sind außerordentlich lieblich, und machen auch unter dem Schnee mit ihren fleißigen Gruppen ein schönes Winterbild."


Tatsächlich habe ich wohl bis Schottwien (dort mangels Alternative) und auch danach fast bis auf den Semmering die historische Poststraße benutzt. Inzwischen gibt es zu dieser eine Autobahn und auch eine Bundesstraße als Alternative, weniger steil, viele Tunnels. Und dann gibt es noch die Semmeringbahn, die inzwischen zum Weltkulturerbe zählt als erste normalspurige Gebirgsbahn Europas. Dieser Bahnstrecke und einem der Viadukte begegnete ich immer wieder mal im Laufe des Tages, und an ihrem höchsten Punkt, dem Bahnhof Semmering, habe ich Rast gemacht, und tapfer den Zug nach Mürzzuschlag ohne mich davonfahren lassen. Immerhin hatte es schon eine Stunde vor dem Gipfel aufgehört zu regnen.

Die schöne Landschaft, die Seume beschreibt, blieb mir jedoch weitgehend verborgen hinter Nebelschwaden und Regenwolken. Oben auf dem Pass erinnert ein Denkmal an den Bau der ersten Passstraße im Jahre 1728. Es dürfte wenig Zweifel geben, dass Seume diese Straße nahm, deren genauer Verlauf mir aber zu ergründen nicht möglich war. Gleichwohl war ich sicher, ab und zu auf dieser Straße oder der überbauten Trasse gegangen zu sein.

Der Abstieg vom Pass war dann geprägt vom Lärm der Autobahn, wenn diese aus dem Tunnel hervorkam. Ich ging am Rand der nicht zu stark befahrenen Bundesstraße und vermied die von Komoot vorgeschlagenen erbaulichen Verlängerungen. Das war vermutlich auch gut so, denn ich musste feststellen, dass große Teile des Gebietes neben der Straße komplett abgesperrt sind. Es wird nämlich der Semmering-Basistunnel gebaut und an einer der großen Baustellen mit einer riesigen Schutthalde geförderten Gesteins kam ich vorbei. Noch Kilometer später war die Straße mit grauem Staub eingefärbt von den LKWs, die den Abraum wegfahren.

Dieser neue Eisenbahntunnel soll die jetzt noch vorhandenen großen Steigungen der Bahnlinie vermeiden. Bei Güterzügen sieht man regelmäßig zwei Lokomotiven vorgespannt, was gewiss zu Problemen führt, wenn die z.B. vor und hinter dem Pass an- und abgekoppelt werden müssen.

Am Ortseingang von Mürzzuschlag fand ich auch noch einen der Kanäle zum Bereitstellen von Wasserkraft. Seume lobte die damalige Industrie. Der Kanal endete in imposanter Höhe auf einem Betontrog vor einem gar nicht so alten Fabrikgebäude.


Aufstieg zum Semmeringpass kurz vor Schottwien. Hinter der Kruve könnte das Haus gestanden haben, in dem Seume übernachtete.

Tag 29 Von Gloggnitz nach Mürzzuschlag über den Semmering-Pass

29. September 2022, 27 km bis km 746,8

Motivierender Blick aus dem Hotelfenster am Morgen

Die alte Passtraße ist wenig befahren und einigermaßen romantisch. Hier wird Seume definitiv langgegangen sein.