„Selbst im Sonnenschein ist Nancy keine fröhliche Stadt, zumindest in ihren Augen. Bei Regen verliert die Stadt sich in Grautönen und wird schräg und verschwommen, fast schon wieder interessant, so deprimierend ist es. Eine Stadt im Osten von Frankreich. Der Himmel hängt tief, die Häuser sind zweistöckig, ab und zu architektonisch gelungen, doch selbst ein Blinder sieht, dass darin bestimmt keine reichen Ärzte wohnen“
– Virginie Despentes: Bye bye Blondie (2004)
Heute früh bin ich in den Swimmingpool des Hotels gestiegen (indoor, ein Sprung ins Wasser wäre tödlich gewesen, so flach war es). Das ist mehr ein Planschbecken, und sind mehr als drei Leute im Wasser, kann man nicht mehr wirklich schwimmen. Störe meine Kreise nicht…Der Fitnessraum enthält eine kleine Sammlung von Babyhanteln, zwei Laufbänder, das wars.
Nach dem Frühstück und einigen Heimattelefonaten bin ich ins hiesige Kunstmuseum. Viel Mittelalter, kaum Gegenwart, aber immerhin einzelne Bilder von den VIPs der Malerei. Nirgendwo ein Fitzelchen Fremdsprache an Bildern und Schildern. Aber bezeichnend für Nancy schon wieder das hier: vor dem Museum an dem berühmten Stanislavski Platz kein einziger Fahrradständer. Im Museum auf die Frage nach Abstellmöglichkeiten für meinen Roller erstauntes Schulterzucken.
Ich habe danach noch die etwas schickere Seite Nancys entdeckt und mich so ein wenig mit der Stadt versöhnt. Kathedrale angesehen: in schlimmem Zustand und überbordend mit Kirchenpostern zugepflastert, die imposante Orgel wird gerade restauriert. Dann durch den empfehlenswerten englischen Garten gekurvt. In der Fußgängerzone endlich einen Tisch in der Sonne vor einem Café gefunden. Es gibt akzeptablen Tee, aber keinen Kuchen. Unglaublich.
Heute ist ein Feiertag und die Stadt ist voller Leute. Die ganze Region hatte früher viel Schwerindustrie und gilt jetzt als verarmt. Es ist nicht gelungen, den Niedergang durch alternative Industrien zu ersetzen. Da staunt man, dass es in Nancy riesige Tiefgaragen gibt, die ein Vermögen gekostet haben müssen. Es gab mal einen Elektrobus, der seine Energie von in den Straßen eingelassenen Stromschienen bezog. Als Straßenbahn ohne Draht und Schiene wurde dieses System gelobt. Ähnliches hatte ich schon mal in Tour bei der dortigen Straßenbahn gesehen, auch die fuhr in der Stadt ohne Oberleitung.. Aber irgendwann gab es für die exotischen Busse keine Ersatzteile mehr. Schließlich wurde der Betrieb eingestellt und auch die Idee einer Straßenbahn (es fuhr schon mal eine vor ca. 100 Jahren) verworfen. Die gestern erwähnte lange Baustelle im Zentrum rührt auch daher, dass jetzt die Stromschienen wieder ausgebaut werden.
Was schreibt Seume:
In Nancy, wo ich Vormittags ankam, besah ich Nachmittags das Schloß und die Gärten, welche jetzt einen angenehmen öffentlichen Spaziergang gewähren und ziemlich gut unterhalten werden. Hier hatte ich den 26sten Juli schon reife, ziemlich gute Weintrauben.
Weiter schreibt er zu Nancy:
Von da ging ich über Toul immer nach Straßburg herauf. Von Nancy aus pflegt man die Notiz auf den Wirtshausschildern in französischer und deutscher Sprache zu setzen, wo denn das Deutsche zuweilen toll genug aussieht. Bei Zabern ist die Gegend ungewöhnlich schön und es muß in den Bergen hinauf romantische Partien geben. Da ich den letzten Abend noch gern nach Straßburg wollte, nahm ich die letzte Station Extrapost und ließ mich in die Stadt Lion bringen.
Der behauptete Weg über Toul nach Straßburg ist auch wenig glaubwürdig, denn Nancy liegt zwischen diesen beiden Städten. Und das erwähnte Lion (wenn es denn keine Verwechslung meinerseits gibt) liegt weit im Norden westlich von Metz, ebenso abseits einer logischen Route.
Seume ist am 21. Juli in Paris losgegangen. Dass er die Strecke nach Nancy in fünf Tagen nur gegangen sein will (bis zum 26. Juli) ist unwahrscheinlich. In habe mit Roller und einem ordentlichen Kilometerpensum knapp acht Tage gebraucht.
Der Ruhetag und die Sonne haben mich wieder aufgebaut. Gestern hatte ich ein kleines Erschöpfungstief, wie es normal ist bei jeder Reise, die kein bloßes Trödeln ist.
Nancy versucht die Moderne. Leider in Dimensionen, die nicht unnebdingt Fußgängermaß sind. In der Nähe des Kanals vor der aufgegebenen Busbahn.
Tag 9 Ruhetag in Nancy
Eines von vielen erhaltenen Stadttoren in Richtung Mosel
Der Stanislav-Patz. Ja, benannt nach einem Polen, der einige Jahrzehnte Herzog von Lothringen war, dem ehemaligen polnischen König Stanislaus I. Leszczyński, der nach der Niederlage im Polnischen Erbfolgekrieg 1737 durch seinen Schwiegersohn Ludwig XV. mit dem Herzogtum von Lothringen und Bar abgefunden wurde. Im Hintergrund das Museum für Kunst. Alles UNESCO-Weltkulturerbe.
Das touristische Nancy an der Grand Rue.
Das mit zahllosen Porträtskulpturen versehene Portal der Basilique Saint-Epvre. Neogotik aus dem 19. Jahrhundert.
Viele leere Stühle in der barocken Kathedrale.