… und ein dunkelhaariger Lockenkopf öffnete neugierig mit einem einladenden Lächeln die Tür … Nein, schon wieder nichts, nur Regen. Nach einem bombastischen Frühstück in meinem Motel (zwei Wiener Würstchen, zwei Eier, Käse, Paprika, zwei Brötchen, Brot…Vegetarier und Veganerinnen! Meidet dieses Land!) zog ich ab ins Grau. Zunächst ging ich die Straße nach Golcuv Jenikov, denn dort gibt es einen Geldautomaten. Der funktionierte zum Glück. Ebenfalls Glück hatte ich mit einer Apotheke, wo ich meine Pflastervorräte aufstockte. Die Blasen…. Meine tschechischen Kronen waren fast alle, denn gleich zweimal konnte ich in einer Unterkunft nicht mit Karte zahlen.
Golzuv Jenikov ist ein ganz nettes Örtchen mit einigen historischen Bauten im Zentrum. Hinter dem Ort folgte ich einer schmalen Straße, dann musste ich erneut die Fernstraße M38 überqueren.
Die ist eine echte Zumutung. An Ortsdurchquerungen oder Kreuzungen gibt es null Geschwindigkeitsbegrenzungen, Ampeln gleich gar nicht. Fußgänger sind bestenfalls dort vorgesehen, wo die Straße entlang von Häusern führt. Selbst der Autofahrer mit Panne soll wohl besser bleiben, wo er ist. Ansonsten ist die neu gebaute Trasse fernab der Dörfer in großen Bögen ohne Fuß- und Radweg angelegt. Geht man entlang der Fernstraße, wird man also auf dem oft nicht vorhandenen Standstreifen permanent von schnell fahrenden Fahrzeugen überholt. Jiri, einer meiner Gastgeber, betrachtet das Laufen dort als lebensgefährlich. Verbotsschilder für Fußgänger gibt es aber nicht. Besonders kritisch wird es an Stellen, die durch Leitplanken gesichert sind. Dort sind die Fahrbahnen schmaler und man kann die Leitplanke dann als Fußgänger wie ein absurdes Treppengeländer benutzen. Bei Regen wird man vom aufgewirbelten Wasser eingesprüht. Schallschutzwände gibt es so gut wie nirgends. Trotzdem bauen die Tschechen fleißig Neubausiedlungen mit respektablen Einfamilienhäusern in Rufweite dieser Straßen.
Daher ist es löblich, dass Komoot mir einen Zickzackkurs vorschlägt, der diese Fernstraße wenigstens ab und zu meidet, sie wäre ansonsten die kürzeste Verbindung zu meinem heutigen Tagesziel Deutsch Brot bzw. Havlickuv Brod. So werden aus 30 km eben 36 km.
Inzwischen hat ein fieser Landregen eingesetzt. Vorsorglich hatte ich schon meine Stulpen über die frisch eingefetteten Stiefel gezogen. Aber jetzt geht es durch den Wald, und meine Hosen sind ab Knie abwärts schnell nass. Auch mein Regenschirmchen ist bald überfordert. Ich muss raus aus dem Wald. Liebe tschechische Wanderfreunde, schickt doch bitte mal ab und zu ein paar Freiwillige mit Macheten, Sensen und Motorsägen über die Strecken, die ihr ernsthaft als Wanderwege ausweist. Oder kennzeichnet sie alle gleich als Klettersteige.
Ich stapfe weiter quer über ein schlammiges Feld, denn ich sehe eine Datsche unter ein paar Bäumen. Tut mir leid, lieber Datschenbesitzer, dein Verbotsschild musste ich leider ignorieren. Wozu soll ich auch dein Grundstück nicht betreten, wenn du den Rasen auf Golfplatznieveau geschoren hast und dann keiner da ist? Ich brauchte das Vordach deiner Laube. Jetzt trete ich den Beweis vor mir selbst an, dass ich das ganze Regenzeug nicht umsonst mitgeschleppt habe. Überhose, Kapuzenjacke, Regenplanen … Ich lerne, dass man unter dem ganzen Plastikkram nicht schwitzt, wenn man tapfer läuft, denn durch die Bewegung wird immer ein wenig gelüftet. Trotzdem gibt es eine Schwachstelle: wenn der Regen am Rücken runterläuft, saugen sich die Tagegurte des Rucksacks voll und auch vom Rücken her dringt Nässe in das Innere des Gepäcks. Ich halte also weiter tapfer meinen Regenschirm.
Heute bin ich auch an einer gigantischen Hühnerfarm vorbeigekommen. Den Geruch kenne ich aus meiner Kindheit. Und diesen Geruch verströmte auch ein Haufen, der von weitem aussah wie frischer Mutterboden. Nein, es war Streu mit Hühnerscheiße, tonnenweise auf den Acker gekippt, und jetzt war reichlich davon auf den Weg gespült worden. Da musste ich durch. Liebe tschechische Bauern! Das macht ihr nicht nochmal mit mir! Auch wenn der Regen dann den ganzen Tag Zeit hatte, die Stiefel wieder abzuspülen. Und ich werde hier auf keinen Fall aus irgendwelchen Bächen trinken, es sei denn die fließen auf 3.000 m Höhe und im Umkreis von 5 km ist weder Vieh noch Farm auszumachen.
Ich muss übrigens meine Klage über mangelnden Obstbaumbestand entlang der Strecke revidieren. Die Vitamin- und vermutlich auch Schadstoffversorgung ist gesichert. Wandert man mit gesenktem Kopf, kann man am Fallobst auf der Straße sehen, ob sich eine kleine Ernte lohnt. Ansonsten bin ich der Einzige, der erntet.
Hab geschlafen unter'm Apfelbaum
Und er hing mit Äpfeln voll
Als ich träumte einen Apfeltraum
in Moll.
Alle Äpfel hatten ein Gesicht
Jedes weinte bitterlich.
Und der Apfelbaum der neigte sich zu mir:
Rüttle, schüttle mich,
Fremder mein Gewicht
ist gar so schwer.
Träume deinen Traum,
unter'm Apfelbaum
doch hinterher.
Kam ein Vogel, flog auf einen Ast,
Und er war die Goldmarie
Aus dem Märchen, mein Freund aufgepasst,
sprach sie:
Dieser Baum gehört dem alten Mann,
In dem Häuschen nebenan
Wenn du kannst, denn es geht ihm
sehr schlimm, hilf ihm
Recke, strecke dich,
ich erwecke dich aus deinem Traum
Stell dich nicht so an,
hilf dem alten Mann
und seinem Baum.
Wachte auf, fast wie ein Trunkenbold,
Stellte fest nur Fantasie
War der Apfeltraum und auch die Goldmarie
Nahm die Äpfel ab, gab sie dem Mann
Der schon sieben lange Jahr
Wie er sagte nicht in seinem Garten war
"Sieben Jahre sind,
manchmal stumm
und nicht mehr als ein Traum"
Sprach der kranke Mann,
bot zum Dank mir an
den Apfelbaum.
Es ist einer der wenigen Liedtexte, den ich auswendig kann.
Da ich gestern dem Regen das letzte Wort gegeben hatte, wollte ich heute etwas mehr laufen. 36 km wären das gewesen. Die Füße sind wieder in Form! Gern wäre ich ein Stück getrampt, aber ich hätte als Ziel immer nur das nächste Dorf angeben können auf meinem Schlingerkurs. Ab und zu habe ich mal nett mit meinem orangen Regenschirm gewunken. Nun ja. Etwa bei km 20 musste ich wieder ein Stück die Fernstraße gehen. Und just in dem Moment kam der Bus nach Havleckuv Brod, der mich durchgeweichten Wanderer an der zufällig anwesenden Haltestelle erlöste. Auf der Fernstraße waren es ca. 10 km, aber zu Fuß hätte ich noch 16 auf der Uhr gehabt.
In der Stadt meiner heutigen Träume bin ich gleich mal in meinem ganzen Aufzug in ein Café eingefallen. Heißer schwarzer Tee mit Schokoladentorte. Und dann habe ich die anwesenden Damen mit einer kleinen Strip-show erfreut, denn draußen kam allen Ernstes die Sonne raus. Also runter mit dem Regenzeug.
Havleckuv Brod hat einen schönen Marktplatz, natürlich zugleich Durchgangsstraße für Autos und Busse. Und hinter der noch einigermaßen intakten Stadtmauer stapeln sich die Neubaublocks als gelte ihnen besonderer Schutz.
Das Hotel hatte ich noch im Bus gebucht. Und es gibt einen Wasserkocher. Draußen weht der Geruch von Braunkohlebriketts.
Übrigens: wenn man im strömenden Regen neben einem Maisfeld läuft, hört sich das Rauschen des Regens in den Blättern an wie ein fröhlicher Gebirgsbach. Echt jetzt!
Eine typische tschechische Fernstraße: weder Fuß- noch Radweg.
Tag 15 Von der Raststätte bei Oracevice nach Havlickuv Brod
15.September 2022, 31 km, davon 21 gelaufen, 10 mit dem Bus bis km 397,8
Die Tschechen lieben ihre Autos. Das erkennt man auch an imposanten Garagenbauwerken, die noch aus sozialistischen Zeiten stammen dürften. Die obere Etage ist über eine rückseitig gelegene Rampe erreichbar. Immerhin flächensparend. Diesen Typenbau traf ich mehrfach an.