Heute beim Frühstück war ich dann der Erste, und Wanda hat sich fast überschlagen mit dem Bewirten. Es gab richtiges Brot (Graubrot), Rührei und zum Schluss aus dem Kühlschrank noch eine Kaki. Aus der Vitrine wurde für mich die gläserne Teekanne geholt, mit Siebeinsatz. Dann setzte sie sich zu mir an den großen Tisch im Wohnzimmer, das wie das ganze Haus mit alten Möbeln, Antiquitäten und vielen Bildern dekoriert war. Nun musste ich erzählen vom Woher und Wohin. Wanda spricht gut Englisch. Als sie bei meinem Beruf landete, erklärte sie, dass sie früher als Schauspielerin und Reiseleiterin gearbeitet hat. Und: sie kommt ursprünglich aus der Nähe von Poznań. Da habe ich doch gleich mal ein paar polnische Brocken ins Gespräch gemischt, und sie war begeistert. Weiter ging es dann von Solidarnozs, Czeslaw Njemen, Jaruzelski über Breschnew bis Putin. Zwischendurch drei Sätze Russisch und viel darüber wie jeder zu den genannten Personen, Sprachen usw. kam und steht. Wir waren uns in vielem einig, haben viel gelacht, und Putin verflucht. Sie hatte über drei Ecken deutsche Wurzeln, ich ein paar polnische.
Dann kamen die Brasilianer dazu und es hätte gut noch eine Stunde weitergehen können. Eine Stunde, die mir ohnehin fehlt, denn jetzt ist Dank Zeitumstellung schon um 17 h Schicht im Schacht mit Tageslicht. Das wird eine echte Herausforderung, denn in vielen Hotels gibt es erst ab 08.00 h Frühstück. Um die Zeit hat die Sonne zukünftig schon die zweite Stunde angebrochen, und ich will eigentlich bei Sonnenaufgang los. Im dümmsten Fall habe ich nur noch achteinhalb Stunden Tageslicht. Da sind dreißig Kilometer kaum mehr zu schaffen.
Ich verließ Rovigo durch das gut erhaltene südliche Stadttor, welches Seume auf seinem Weg nach Ferrara gewiss auch durchschritten hat. Generell bin ich erstaunt, dass hier sehr viele Städte ihre mittelalterlichen Befestigungen, auch solche aus der Neuzeit, nicht geschleift haben.
Bald ging ich wieder über kleine Straßen, staubige Feldwege. Zuvor durch die nicht enden wollenden Industriegebiete, die es hier im Umland jeder Stadt gibt. Der Boden ist von den Flüssen planiert, die Bauern offensichtlich nicht sehr erfolgreich, die Baumafia umso mehr. Also geht man in die Fläche, was das Zeug hält und okkupiert Agrarland. Ich überquere stillgelegte Bahnlinie, aufgegebene Kanäle, in deren grüner Brühe zu meinem großen Erstaunen fleißig geangelt wird.
Unterwegs treffe ich Victoria, etwa 7, die mit ihren Eltern den Sonntagsspaziergang macht. Stolz erklärt sie, dass sie auch gerne wandert und schon die große Runde ums Dorf schafft. Die Eltern übersetzen. Dann biege ich ab und noch lange winken wir uns aus der Ferne zu. Victoria schickt mir später die Fotografie einer Zeichnung. Ich schicke - wieder in Berlin – der Familie eine Fotografie.
Der Boden auf den Feldern ist ausgedörrt. Auch an einem weitgehend trocken gefallenen Entwässerungsgraben gehe ich kilometerweit entlang. Im Schlamm entdecke ich Spuren der verschiedensten Tiere und auch große Muschelschalen. So wie im morgendlichen Rovigo ist es auch jetzt erfreulich still um mich. Es gibt sie also noch: Orte mit Stille. Die Gegend ist ärmer hier, was man an vielen aufgegebenen Bauerhöfen sieht. Früher waren die mal logistisch gut gelegen zwischen den Feldern und Gräben. Heute spielt die Entfernung für den Traktor keine Rolle mehr.
Endlich klettere ich auf einen Damm, so hoch wie ein dreistöckiges Haus. Links von mir ist der Po, versteckt hinter jungen Pappeln. Vom Damm schaut man rechts weit ins Land. Es dauert einige Kilometer, bis ein Stück Wasser zwischen den Bäumen zu sehen ist.
In Polesolle sehe ich den Fluss endlich in seiner ganzen Breite. Dort verlasse ich den Deich, denn so wie einst Seume winkt mir heute etwas Erleichterung:
„Das Wasser hatte hier überall außerordentlichen Schaden getan, wie Du gewiß schon aus den öffentlichen Blättern wirst gehört haben; vorzüglich hatte der sogenannte canale bianco seine Dämme durchbrochen und links und rechts große Verwüstungen angerichtet. Es arbeiteten oft mehrere hundert Mann an den Dämmen und werden Jahre arbeiten müssen, ehe sie alles wieder in den alten Stand setzen. Hier sah man empörende Erscheinungen der Armut in einem ziemlich gesegneten Landstriche; und ich schreibe dieses auch mit dem Unheil zu, das die Flüsse und großen Kanäle hier sehr oft anrichten müssen. Da die Straße ganz abscheulich war, ließ ich mich bis Ponte di Lagoscuro auf dem Po hinauf rudern , und zahlte fünf Ruderknechten für eine Strecke von drei Stunden die kleine Summe von zehn Liren. Der Po ist hier ein großes, schönes, majestätisches Wasser, und die heitere, helle Abendsonne vergoldete seine Wellen, und links und rechts die Ufer in weiter, weiter Ferne.“
Ponte di Lagoscuro liegt heute nicht mehr am Po, sondern am Rand der Gemeinde Santa Maria Maddalena. Da ich nicht genau wusste, wo Seume seine Bootsreise begann, bin ich zum vorgenannten Ort von Polesolle aus getrampt. Das ging erstaunlich gut. Meine Trampstelle hatte zwar gute Haltemöglichkeiten und war von weitem zu sehen, auch war die Geschwindigkeit dort begrenzt (was die Italiener nicht wirklich interessierte), aber ich stand mit dem Rücken zur Sonne, so dass mein Gesicht und meine Flaggenbanderole im Schatten waren. Umso mehr musste ich ein strahlendes Lächeln zum Einsatz bringen. Dazu habe ich mein gelbes Halstuch an den Wanderstad geknüpft und dieses wie eine Flagge in die Luft gereckt.
Nach etwa zwanzig Minuten hatte ich Erfolg. Ein Transporter mit einem Altersgefährten hielt, er hatte Kartons mit Espressotassen geladen und fuhr nach Sante Maria Maddalena, setzte mich kurz vor der Brücke über den Po ab. Der Po führte erstaunlich viel Wasser, gab es doch im Sommer eine heftige Dürre.
Von da musste ich durch einen Vorort und noch durch die ganze Stadt Ferrara marschieren, denn die Suche nach einem bezahlbaren Hotel war ergebnislos. Glück hatte ich bei AirBnB und Rita, die in einer Neubausiedlung am südlichen Stadtrand ein Zimmer vermietet. Das ist schlicht und preiswert. Ich bleibe auf Distanz, denn es ist unklar, ob Rita einen Raucherhusten hat oder Schlimmeres. Im Flur zwei Taschen mit dicken Ordern: Material von Scientology. Da sie nur drei Sätze englisch kann, wird es wohl morgen nicht so ein schönes Gespräch geben wie heute bei Wanda.
Mein Zimmer bei Wanda. Ich schlief inmitten von Antiquitäten.
Tag 60 Von Rovigo nach Ferrara
Der Weg aus der Stadt Rovigo.
Auf der Brücke über den Po
Auf den Weg in die Suburb.