Eigentlich wollte ich in Erfurt einen Boxenstopp machen, aber mein Wunschreifen war in der empfohlenen Werkstatt nicht vorrätig. Vorhandene Ware wäre kein so guter Kompromiss gewesen. Ich habe jetzt ohnehin nur noch ca. 140 km vor mir. Da gehe ich mit meinem Provisorium mal ins Risko, zumal ich die Gegend kennen, oft parallel zu Bahnlinien fahre – so dachte ich am Mittag. Aber am Nachmittag wurde ich dann doch noch fündig in der „Radbörse“. Dort gab es nicht nur meinen Wunschreifen (Schwalbe „unplattbar“), ich bekam auch noch einen Schnellspanner für die Hinterachse, ich durfte alles gleich montieren und dabei ein wenig Werkzeug nutzen und zuletzt erhielt ich sogar noch eine Portion Handwaschpaste am Werkstattwaschbecken. Jetzt ist das Hinterrad wieder topfit.
In Herrenhof habe ich bei einem Bäcker gefrühstückt und wurde Zeuge der Gespräche in einer Runde von Rentnern und solchen die es demnächst werden. Erst ging es um Messgeräte für Blutzucker. Diabetes II usw. Plötzlich wurde gemurmelt, als gäbe es die Stasi noch: man besprach die gestrige Kommunalwahl. Ich habe nicht viel verstanden, aber doch Einiges. „Briefwahl – da wird ja nochmal ordentlich gefälscht.“ Meinte die Backwarentante. Mein Gott, wenn hier was gefälscht ist, dann Deine Eierlikörschnitte, an der viel Butter aber never ever Eierlikör war. Ein Herr verkündete: „Am schlimmsten sind die Grünen! Baerbock und Göring-Eckart – die haben alle keine Abschlüsse!“ Und so ging es weiter. Beim Gehen trat ich lächelnd an den Tisch: „Selbstverständlich hat Frau Bearbock einen Hochschulabschluss! Und Frau Göring-Eckart hat immerhin Abitur. Aber es ist ja egal: Wenn Leute mit Hochschulabschluss regieren, meckern Sie, dass da nur Studierte sind und keine einfachen Leute. Regieren Leute, die nicht studiert haben, beklagen Sie mangelnde Abschlüsse.“
Es ist dieses dauernd meckernde Dunkeldeutschland, das mich echt fertig macht. Der Staat, die Stadtverwaltung – entfremdete Dienstleister, an denen man zu Hause auf dem Sofa beliebig herummeckern kann, folgenlos in jeder Hinsicht. Aber es gibt Hoffnung: Die Diakonie hat in der Umgebung von Neudietendorf an mehreren Fassen große Banner befestigt mit ihrem Logo und dem Slogan „Herz statt Hass“.
Immer wieder auf meiner Reise habe ich mir die Frage gestellt, ob ich wohl in einem der abgelegenen Städtchen leben könnte. Was macht man da den ganzen Tag, außer vielleicht irgendeinen Job? Wo kann man noch wirklich was bewegen, was verändern, wenn alle nur wegziehen oder einfach nur am Älterwerden sind. Vielleicht freundet man sich mit ein paar Unternehmern an, dem Arzt, dem Pfarrer, der Zahnärztin. Kommen da 10 Leute zusammen? 20?
Und was passiert, wenn man sich mit diesem Kreis irgendwie ein Dutzend Mal getroffen hat, die Marotten und Stärken der einen und des anderen auswendig kann? Alles erzählt ist? Was macht das mit dem eigenen Denken? Wie lebt man hier als Künstler? Man kann Abgeschiedenheit als großen Impuls für Kreativität nehmen. Ich kenne auch Künstler „vom Lande“, die viel Platz in großen alten Scheunen loben, die Ruhe, aber bei denen mir auch klar ist, dass sich in deren Ateliers kaum ein Sammler verirrt.
In Jena (immerhin gut 100.000 Einwohner und 17.000 Studierende) habe ich mich, aus Leipzig kommend, anfänglich ein wenig verloren gefühlt. Aber ich habe mich sehr engagiert, ehrenamtlich, auch politisch und natürlich durch Gründung einer Firma. Hätte ich heute nochmal die Energie dafür? Ich bin jedenfalls glücklich, in Berlin gelandet zu sein, dass hier viele ganz schrecklich finden. Nach 20 Jahren habe ich noch immer das Gefühl, in Berlin ständig Neues zu entdecken, interessante Leute kennenzulernen. Dafür bin ich meiner Gattin ewig dankbar, ohne die ich vermutlich nicht nach Berlin gegangen wäre.
Erfurt, Weimar, Jena, vielleicht noch Gotha oder Eisenach, Schmalkalden, Meiningen – das sind die Städte in Thüringen, in denen es ganz nett ist. Aber oben im Wald die Dörfer – schrecklich. Gera, Altenburger Land – lost.
Also verbrachte ich einen schönen Nachmittag in Erfurt. Ich saß zum Brunch im Desserado. Der Slogan dort: „Stressed rückwärts buchstabiert ergibt DESSERTS“. Wunderbar. Und ich hatte einen wunderbaren Abend: Ich war zu Gast bei Seume-Freunden, die ich sehr schätze. Freunde können einen mit jeder Stadt versöhnen.
Seume schreibt zu der Gegend wenig:
„Schon in Paris hatte ich gehört die Preußen wären in Erfurt, und wunderte mich jetzt, da ich sie noch nicht hier fand. Diese Saumseligkeit ist sonst ihre Sache nicht, wenn etwas zu besetzen ist.“
Der Erfurter Domplatz wird auf den Deutschen Katholikentag vorbereitet. Mit viel Polizei.
Tag 27 Von Georgenthal nach Erfurt
Im Thüringer Becken. Blick zur Burg Wandersleben.
Auf der Krämerbrücke in Erfurt