Nein, Wiener Neustadt hat nur noch entfernt etwas mit Wien zu tun, es ist die was weiß ich wievielte Auflage der Vorstädte.

Vom Dinopark ging es im schönsten Pieselregen durch das gastronomische Nichts. Erst nach ca. 12 km fand ich in Sollenau eine Bäckerei, die mir heißes Wasser für einen Tee gab. Zuvor habe ich in einem der Billa-Märkte, die es in fast jedem Dorf gibt (Respekt!), eingekauft. Bananen, Datteln, Nüsse, Laugenecken. Und eine Käsestange mehr und eine Banane extra, denn am Eingang stand ein Tippelbruder unter dem Vordach in Sandalen, kurzer Hose, zerzaustem Bart, Turnbeutel. Dem gab ich eine Banane und eine der Käsestangen. Er strahlte, war definitiv noch keine vierzig. „Wo kommst Du her?“ Schweigen. „Wo willst du heute noch hin?“ Schulterzucken. „Willst Du nach Wien?“ Schulterzucken. Bei all dieser Wortlosigkeit strahlte er mich mit hellen Augen an. Eine Frau steckt ihm 5 € zu. Er strahlt und schweigt. Hätte er nicht den ganzen Bart voller Essensreste gehabt, hätte ich um ein Porträt gefragt. So habe ich nur aus der Ferne, wie zum Abschied ein Bild von der Kaufhalle im Regen gemacht. Wer genau hinsieht…

Ein Porträt durfte ich dann aber beim Bäcker machen, von einem alten Herrn, 83, mit dem ich ausgiebig übers Reisen sprach, d.h. er erzählte mir, wo er schon überall war…

Auf dem Weg nach Wiener Neustadt querte ich den von Seume erwähnten Kanal Wiener Neustadt - Wien:

„Die Soldaten waren auf Arbeit an dem Kanale, über den ich gestern gegangen war, und der, wie mir der Alte bedeutend zweifelhaft sagte, bis nach Triest geführt werden solle. Vor der Hand wird er nur die Steinkohlen von Neustadt nach Wien bringen.“
Ich ging sogar über eine historische Bogenbrücke, vielleicht Seumes Weg, denn an ihren Abfahrten verblieben Stummel einer alten Straße, kenntlich durch das obligatorische Kruzifix, die an der einen Seite durch eine Schnellstraße und an der anderen durch das Gelände eines Sägewerks abgeschnitten waren. Zum Kanal und dessen Bau unbedingt mal den Wikipedia-Artikel lesen. Der BER (Berliner Flughafen) war ein Glanzstück angesichts dieses Desasters. Ganz sicher auf Seumes Weg war ich jedoch dann in Theresienfeld, welches bei Seume indirekt Erwähnung findet:

„Als die Nacht einbrach, blieb ich in einem Dorfe zwischen Günselsdorf und Neustadt. So wie ich in die große Wirtsstube trat, fand ich sie voll Soldaten, die ihre Bacchanalien hielten. Die Reminiszenzen der Wachstuben, wo ich ehemals Amts wegen eine Zeitlang jede dritte Nacht unter Tabaksdampf und Kleinbierwitz leben mußte, hielten mich, daß ich nicht sogleich zurückfuhr. Ich pflanzte mich in einen Winkel am Ofen, und ließ ungefähr dreißig Wildlinge ihr Unwesen so toll um mich her treiben, daß mir die Ohren gellten."
Vielleicht hielt sich Seume sogar in einem Wirtshaus auf, welches mir auffiel, wegen einer Tafel, dass darin Napoleon II. König von Italien (Bruder Napoleons) im Jahre 1816 mit seiner Mutter zusammentraf. Das Gasthaus „Petri“ stammt wohl aus der Zeit, als Theresienfeld durch Kaiserin Theresa im Jahr 1765 gegründet wurde, und ist leider verlassen und halb verfallen. Die Straße zwischen Günselsdorf und Wiener Neustadt ist jedenfalls schnurgerade und wird wohl durch Seume benutzt worden sein.

Ich kehrte wenig später auf einen Döner ein im Gewerbegebiet an einer großen Kreuzung mit großen Parkplätzen. Döner habe ich schon in Wien gegessen. Nicht aus Heimweh, sondern weil ich so die vitaminlosen Fleischberge in Soßenflut – ja, das ist die österreichische Küche in der Provinz! Sorry! – vermeiden kann.

Und tatsächlich verbringe ich die Nacht jetzt in einem der Gewerbegebiete in einem Hotel, an dem ich fast vorbeigelaufen wäre, weil es aussieht wie eine alte Fabrik. Es ist warm, es gibt heißes Wasser für einen Tee, eine Bar mit alkoholfreiem Bier, und das zum Preis des Schlaffasses. Passt.

Morgen knacke ich die 700 auf der Kilometeruhr. Und es soll nicht regnen. Aber das Wetter wird kühl und regnerisch bleiben. So sehe ich dem Semmering-Pass (984 m) mit Skepsis entgegen. Seume überquerte ihn im tiefen Schnee.





Die Dorfstraße von Günzelsdorf. Diesen Ort erwähnt Seume und hier muss er langegangen sein.

Tag 27 Von Tattendorf nach Wiener Neustadt

27. September 2022, 36 km bis zu km 667,8

Ein schwachsinniger Dinopark empfing mich an Morgen.